Drei kurdische Frauen, Charlie Hebdo, das Pariser Massaker vom 13. November ...

Vertuschte Wahrheiten und ihre Folgen

Maxime Azadi

Fidan Doğan (Rojbîn), Sakine Cansız (Sara), Leyla Şaylemez (Ronahî)Jedes nicht aufgeklärte Verbrechen hat nachfolgenden die Tür geöffnet. Jede Vertuschung eines Verbrechens ist eine Einladung zu einem weiteren. Die Mitwirkung, bzw. schärfer ausgedrückt die Mitschuld, tritt dann als Mittäterschaft an den politischen Morden in Erscheinung. Geheimdienste, Politiker, Verschwörungen, geheime Beziehungen, politische und ökonomische Interessen im Umfeld der Auftragsmörder haben um die Mordtaten herum ein weites Netzwerk geschaffen.

Vor drei Jahren, am 9. Januar 2013, wurden im Zentrum von Paris drei kurdische revolutionäre Frauen durch Kopfschüsse ermordet. Jede Frau wurde von drei Kugeln im Kopf getroffen. Am helllichten Tag. Sie hielten sich in der Rue la Fayette 147 auf. Es handelte sich um das Büro des Kurdistan-Informationszentrums. Die Leichen der drei Revolutionärinnen lagen stundenlang auf dem Boden. Einen ganzen Nachmittag lang antworteten sie nicht auf Telefonanrufe. Niemand öffnete die Tür. Als Freunde, die sich Sorgen gemacht hatten, die Tür aufbekamen, war es schon nach Mitternacht. Der nächste Tag hatte schon begonnen und der Kalender zeigte den 10. Januar und die Uhren ein Uhr nachts an.

Als man die drei Leichen auf dem Boden des Büros liegen sah, entwickelte sich dieser erste Schock zum gesellschaftlichen Schock für alle Kurdinnen und Kurden. Als feststand, dass es sich um eine Mitbegründerin der PKK, Sakine Cansız (Sara), die Pariser Vertreterin des Nationalkongresses Kurdi­stan (KNK), Fidan Doğan (Rojbîn), und ein Mitglied der kurdischen Jugendbewegung, Leyla Şaylemez (Ronahî), handelte, kam es auf der gesamten Welt zu einem Aufschrei.

Vom ersten Moment an war die Situation für die Kurden klar. Es gab keinerlei Zweifel. Dies war ein politischer Mord und die Türkei stand dahinter. Diesen Dreifachmord hatte ein in die kurdische Bewegung eingeschleuster Auftragsmörder begangen. Ein Jahr zuvor war er von Deutschland nach Paris zurückgekehrt und hatte Beziehungen zur kurdischen Bewegung aufgebaut. Der Mörder namens Ömer Güney war gegen Ende 2011 Mitglied im kurdischen Verein in Villiers-le-Bel geworden und versuchte sich später stets kurdischen Militanten zu nähern.

Der nach den Morden in der Rue la Fayette 147 festgenommene Ömer Güney wies die Anschuldigungen zurück. Aber Überwachungskameras in der Umgebung zeigten, wie er kurz nach den Morden das Gebäude verlassen hatte. Zudem wurde die DNA eines Opfers auf der Jacke von Güney entdeckt und an seiner Tasche waren Schmauchspuren.

Ein Jahr nach den Morden, im Januar 2014, tauchten nacheinander mehrere Hinweise auf. In der Türkei lieferten sich gerade die Regierung Recep Tayyip Erdoğans und die Gülen-Bewegung einen Machtkampf. In dieser Phase wurde im Internet zunächst eine Tonaufnahme veröffentlicht. Darin war zu hören, wie Ömer Güney mit zwei türkischen Agenten Mordpläne schmiedet. Es werden Morde an verschiedenen kurdischen Politikern abgewogen und er teilt mit, dass er eine Waffe benötigt. Zwei Tage später, also am 14. Januar 2014, wird ein Dokument veröffentlicht, in dem der Mörder mit dem Attentat beauftragt wird. Auf dem Dokument vom 18. November 2012 sind die Unterschriften von Verantwortlichen des türkischen Geheimdienstes MIT.

Einige Tage nach dem Auftauchen der Beweise, ebenfalls im Januar, vereitelten die Ermittler einen Fluchtplan von Ömer Güney. Quellen aus dem näheren Umfeld der Ermittler ließen verlauten, dass der seit dem 21. Januar 2013 in Untersuchungshaft befindliche Mörder mit Hilfe eines Geheimdienstmitglieds aus dem Gefängnis zu flüchten geplant habe.

Die ermittelnde Staatsanwältin Jeanne Duyé schloss im Mai 2015 die Ermittlungen ab und leitete sie am 13. August an das Strafgericht Paris weiter. In der Anklageschrift zum Mord an Sara, Rojbîn und Ronahî sind deutlich die Verbindungen zur Türkei aufgeführt. Es gibt keinerlei Zweifel mehr. Der türkische Geheimdienst steht hinter diesen Morden.

Der Tatverdächtige wird in der Anklageschrift beschuldigt, »in Verbindung mit einer terroristischen Organisation einen Mord begangen« zu haben. Die Ermittler haben festgestellt, dass der MIT zu den Morden angestiftet hat und an den Vorbereitungen beteiligt war. Es ist nur nicht deutlich geworden, ob der Befehl zu den Morden aus den obersten Etagen des Staates kam oder nicht. Der Verdacht, dass die Morde als Sabotageakt gegen die Friedensgespräche zwischen PKK und Ankara gerichtet waren, ist hingegen in die Ermittlungsakten eingegangen. Ankara hat zu keiner Zeit etwas zur Erleichterung der Ermittlungen getan. Die in Frankreich geführten Untersuchungen endeten an Ankaras Türen. Die türkischen Behörden lehnten es ab, ihre Hinweise mit den Ermittlern zu teilen. Dabei hatten diese festgestellt gehabt, dass der Verdächtige vor den Morden einige Male heimlich in die Türkei gereist war und mit Krypto-Telefonen telefoniert hatte. Auf seinem Handy waren zahlreiche Fotos von kurdischen Militanten und Sympathisanten gefunden worden.

Der französische Geheimdienst hat die »staatliche Geheimhaltung« eines sehr kleinen Teils seiner Informationen über die kurdischen revolutionären Frauen aufgehoben. Aber diese Informationen beinhalteten keine neuen Details, sie waren der Öffentlichkeit schon bekannt gewesen. Daher hat auch der französische Geheimdienst nicht wirklich überzeugende Schritte getan, um den Verdacht an seiner Involvierung in die Morde aus dem Weg zu räumen. Die intensiven Beziehungen der französischen mit den unterdrückerischen türkischen Machthabern vor und nach den Morden und seine andauernde antikurdische Politik stellen für Frankreich eine große Verantwortung dar.

Wegen der Zusammenarbeit der französischen Regierungen mit unterdrückerischen Regimes wurde dieses Terrain stets als Operationsraum genutzt. Und jedes Mal wurde nicht dagegen angegangen. Die türkischen Exekutionskommandos benutzen seit den 80ern Frankreich als Operationszentrum. Die Schlüsselfigur des Susurluk-Unfalls von 1996, Abdullah Çatlı, wurde zur Zeit des Putschisten Kenan Evren gegen die Armenier eingesetzt. In vielen Regionen Europas und allen voran in Frankreich wurden Attentate und Bombenanschläge auf Armenier begangen.

Die undurchsichtigen Morde sind nicht nur darauf beschränkt. Dulcie September, eine Frauenvertreterin aus Südafrika, und Ben Barka, marokkanischer Oppositioneller, waren 1988 bzw. 1965 Opfer solcher »Morde unbekannter Täter«. Diese Morde sind nie aufgeklärt worden. Iranische Oppositionelle, Tamilen und für das Baskenland kämpfende ETA-Mitglieder fielen ähnlichen undurchsichtigen Morden zum Opfer.

Jedes Mal, wenn ein politischer Mord im Dunkeln blieb und nicht aufgeklärt wurde, folgte ihm ein weiterer. Die fehlende Entschiedenheit der französischen Behörden bei der Aufklärung der Morde an den drei kurdischen Frauen hat so nicht verhindert, dass durch die Hand der Türkei weitere politische Morde folgten. Jeder Mord wurde wie ein weiteres Glied in diese Kette eingefügt. Es darf nicht vergessen werden, dass alles miteinander in Verbindung steht. Das gilt für die Welt der Atome ebenso wie für die Welt der Politik.

Der zwei Jahre nach diesem Dreifachmord an den kurdischen Revolutionärinnen verübte Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 ist nicht unabhängig davon zu sehen. Auch die zeitgleichen Anschläge in Paris Monate später am 13. November, bei denen 130 Menschen getötet wurden, sind ein weiteres Glied in dieser Kette. Der gemeinsame Nenner für den 9. Januar 2013, den 7. Januar und den 13. November 2015 sind die Türkei und Kollaboration. Die Verbindungen zwischen dem unmenschlichen IS, der die Anschläge auf Frankreich durchgeführt hat, und der Türkei sind kein Geheimnis. Auch die engen Beziehungen zwischen Frankreich und der Türkei in der Syrien-Krise nicht. Trotz unterschiedlicher Abstufungen bedeuten das Ignorieren der Beziehungen und Verantwortlichkeiten, das Verschleiern von Wahrheiten, neuen Massakern die Tür zu öffnen. Auch wenn die türkischen Dienste die grundlegend Verantwortlichen für die Ermordung der drei kurdischen Revolutionärinnen sind, so können die französischen Behörden ihre eigene Verantwortung dennoch nicht leugnen. Die Aufklärung undurchsichtiger Morde, eine radikale Haltung zu Massakern, die Neubewertung der Beziehungen zu unterdrückerischen Regimes sind für die Zukunft ein Muss. Für die Gerechtigkeit sind die wirkliche Konfrontation und eine offene, entschiedene und klare Position notwendig. Und dafür eine neue Außenpolitik und eine gerechte Beziehung zu den Kurden.


Maxime AzadiMaxime Azadi ist ein kurdischer Journalist. Derzeit arbeitet er für die Nachrichtenagentur Firatnews (ANF) und den Nachrichtensender MedNûce.