Die sich wandelnden Geschlechterrollen im Zuge des kurdischen Befreiungskampfes

Vor allem der Mann muss sich ändern

Mevlüt Küçükyaşar

Die Geschlechterfrage ist ein weites Feld, insbesondere wenn es aus dem Blickwinkel der Männlichkeitsforschung bearbeitet wird. Bevor aber auf die Widersprüche und Dynamiken innerhalb des sozialen Geschlechts des Mannes in Kurdistan eingegangen werden kann, muss die kurdische Frauenbewegung – Anlass und Basis für Veränderungen in der Männerwelt – umrissen werden.

Die Rolle der kurdischen Frauen im Freiheitskampf wurde erstmalig mit dem erfolgreichen Kampf der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) gegen den Islamischen Staat (IS) ins Licht der Medien gerückt und in der breiten westlichen Öffentlichkeit thematisiert. Auch die Kämpferinnen der Einheit der freien Frau Star (YJA STAR), die vorrangig gegen den türkischen Staat kämpfen, kommen immer mehr zum Vorschein. Die außerordentliche Rolle der kurdischen Frauen beschränkt sich aber nicht nur auf den bewaffneten Kampf und ist auch kein neues Phänomen der letzten drei bis vier Jahre.

Diese Entwicklungen kommen nicht von ungefähr, sondern können durch die Geschichte der Arbeiterpartei Kurdi­stan (PKK) erklärt werden. Seit den Anfängen des kurdischen Freiheitskampfes unter deren Führung spielen Frauen sowohl im politischen als auch im militärischen Kontext eine äußerst tragende Rolle. Im Laufe der Jahre bildeten sich innerhalb der PKK eine autonome Frauenbewegung und eine Frauenarmee, welche die kurdische Gesellschaft sowohl in Kurdistan als auch in der Diaspora sehr nachhaltig beeinflussten sowie das Patriarchat und die Geschlechterverhältnisse in Frage stellten. Dieses Muster bildete sich später auch in der legalen Politik heraus – in Form von Frauenräten und Geschlechterquoten in der türkischen Parteipolitik. Vergleichbare Entwicklungen sind zeitversetzt auch in Rojava (Nord-Syrien) zu beobachten.

Obwohl die meisten in die Berge gegangenen jungen Männer- und Frauenguerillas vom Ziel der nationalen Befreiung angetan waren, schlossen sich insbesondere Frauen dem Kampf auch auf der Suche nach gesellschaftlicher Veränderung und ihrer Emanzipation als Frau an. Ihr Kampf gegen die hegemoniale Politik der angrenzenden Staaten, die patriarchale kurdische Gesellschaft sowie reaktionäre Kräfte innerhalb der kurdischen Bewegung dauert nach wie vor an.

Tatsächlich wurde aber durch den Beitrag des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan die Frauenfrage in der kurdischen Gesellschaft breit thematisiert und der Weg dafür auch gegen den gesellschaftlichen und innerparteilichen Widerstand geebnet. Für Öcalan stellt die Befreiung der Frauen die oberste Maxime dar. Er stellt fest, dass die Erzeugung des gesellschaftlichen Mehrproduktes mit der Versklavung der Frau einhergeht. Damit die Gesellschaft befreit wird, muss daher die Frau als erstes Opfer der Klassengesellschaft befreit werden. Ohne die Befreiung der Frauen, als am meisten unterdrückte gesellschaftliche Gruppe, kann laut Öcalan weder die nationale Frage noch die Klassenfrage gelöst werden. Die ideologische Orientierung der PKK hat einen großen Einfluss auf die kurdische Gesellschaft, hier vor allem auf politisierte KurdInnen, sowie die Nachbarvölker.

Vorangetrieben von der kurdischen Frauenbewegung hat sich ein Bewusstsein für Geschlechtergleichheit gebildet und die Geschlechterfrage wird bei vielen kurdischen Parteien, NGOs, Vereinen durch unterschiedlichste Veranstaltungen intensiv behandelt. In großen Teilen der kurdischen Gesellschaft und vor allem in den PKK-nahen kurdischen Organisationen wird die Geschlechterfrage – motiviert durch den Einfluss der selbstständigen Frauenbewegung in der PKK – stark thematisiert. Nichtsdestotrotz stimmen diese Praxis und das Wissen sehr oft nicht mit der gesellschaftlichen Realität überein. Grund dafür sind in erster Linie die institutionalisierten Strukturen, die das soziale Handeln regeln und Geschlechter auf die stereotypen Plätze verweisen.

Anfang des 21. Jahrhunderts wurde, ausgelöst vor allem durch die kurdische Frauenbewegung und durch die Transformation der Geschlechterordnung, die Aufmerksamkeit immer mehr auf Männer gerichtet. Deren Zugehörigkeit zum Kreis der Privilegierten wurde von der Frauenbewegung nicht mehr als selbstverständlich und unveränderbar hingenommen. Im Laufe der Entfaltung der Frauenbewegung in Kurdistan entstand eine kritische Herangehensweise an die Kategorie Männlichkeit. Männer und Männlichkeit wurden immer mehr zu einem zentralen Thema in Gesellschaft und Politik. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Einbeziehung der Männer im beabsichtigten Veränderungsprozess notwendig ist.Nieder mit der Männerdiktatur - Demonstration in Hamburg | Foto: A. Bender

Trotz der oftmals lustlosen Haltung der Männer haben Frauen innerhalb kürzester Zeit immer mehr (öffentliche) Räume für sich erobert. Ein Ergebnis dieses Umbruches waren die Geschlechterquoten in den politischen Gremien, im Parlament und in den Parteiapparaten. Des Weiteren wurde das Modell der Doppelspitze in der Parteiführung und bei politischen Ämtern eingeführt. Wie zum Beispiel bei den Bürgermeisterämtern, die immer von einer Frau und einem Mann bekleidet werden. Jede Entscheidung wird in diesen Gremien gemeinsam getroffen.

Auch wenn in Kurdistan keine patriarchatskritischen und antisexistischen Männergruppen und Männerbüros entstanden sind, versucht die andere Seite des Geschlechts doch ihre Situation kritisch zu beleuchten. Die Frauenbewegung ist nicht an den Männern vorbeigegangen und hat auch soziale Veränderungsprozesse in Gang gebracht. Das Verbot der Mehrfachehe, das Verbot von Gewalt an Frauen für in den Parteigremien der HDP (Demokratische Partei der Völker) und DBP (Demokratische Partei der Regionen) aktive Männer sowie für Gemeindebedienstete sind Schritte in die richtige Richtung. Die Botschaft dahinter lautet: Vor allem die andere Seite des Geschlechts muss sich ändern. Von zentraler Bedeutung ist auch, dass sich viele Männer durchaus aktiv an diesen Änderungsprozessen beteiligen.

Da Männer von der patriarchalen Dividende profitieren, ist es umso schwieriger, ihre Einstellung zu ändern. Zwar trauen sich die meisten kurdischen Männer aufgrund der politischen Prioritäten der kurdischen Freiheitsbewegung nicht, Gewalt gegen Frauen auszuüben und sie offen zu unterdrücken. Inwieweit dieses Verhalten aber verinnerlicht wurde, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Klar ist in diesem Zusammenhang, dass sich Männlichkeitsbilder und Männlichkeitsvorstellungen von jungen Männern im Laufe der letzten Jahrzehnte stark geändert haben. Die kurdische Frauenbewegung hat Widersprüche und Dynamiken innerhalb des sozialen Geschlechts des Mannes hervorgerufen. Die Geschlechterrollen werden als nichts Selbstverständliches begriffen und geraten daher immer mehr ins Wanken. Vor allem die bedeutende Rolle der Frau in Politik und Gesellschaft hat diese Widersprüche bei den herkömmlichen Geschlechterrollen erzeugt.

Nun ist es aber auch nicht so, dass Frauen ihre Zukunft dem Zufall überlassen. Sowohl bei den Guerillas als auch in den kurdischen Städten und in Europa gibt es Seminare und Vorträge zur Geschlechterfrage und Unterdrückung der Frauen, die sich explizit an Männer richten. Auch wenn hier nicht Männer, sondern Frauen die Initiative haben, ist es dennoch wichtig, diese Veranstaltungen für Männer anzubieten.