ExpertInnenkonferenz:

»Ein neuer Akteur im Nahen Osten: Die Kurden – Vom Instabilitäts- zum Demokratisierungsfaktor?«

Martin Dolzer

Am 23. September fand in Berlin die ExpertInnenkonferenz: »Ein neuer Akteur im Nahen Osten: Die Kurden – Vom Instabilitäts- zum Demokratisierungsfaktor?« statt. Etwa hundert TeilnehmerInnen diskutierten in diesem Rahmen über die Situation im Mittleren Osten und die Rolle der KurdInnen bei der Neugestaltung der Region. Unter ihnen waren neben Interessierten auch VertreterInnen der parteinahen Konrad-Adenauer-, Friedrich-Ebert-, Heinrich-Böll- und Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie VertreterInnen mehrerer Parteien aus der Bundesrepublik, Europa und dem Mittleren Osten. Auf Grundlage des Inputs von fünf Podien beschäftigten sich die Anwesenden mit unterschiedlichen Aspekten.

Einig waren sich die ReferentInnen und TeilnehmerInnen, dass es die KurdInnen einschließlich der Volksverteidigungskräfte der ArbeiterInnenpartei Kurdistan (PKK) seien, die in Rojava und im Nordirak den entschiedensten Widerstand gegen den menschenfeindlichen »Islamischen Staat« IS leisten. Sie seien diejenigen AkteurInnen gewesen und seien es immer noch, die ÊzîdInnen und ChristInnen vor dem IS gerettet haben und zudem eine multiethnische und multireligiöse Gesellschaft der Toleranz und Demokratie aufbauen, so der Konsens. Ebensolche Einigkeit herrschte darüber, dass die kurdische Bewegung und insbesondere die Demokratische Partei der Völker (HDP), die Partei der Demokratischen Einheit (PYD), die Selbstverwaltung in Rojava und die PKK eine weitgehend konstruktive und positive Rolle in Bezug auf eine Demokratisierung der Region spielten und dass ein Dialog notwendig sei, um langfristig eine friedliche Entwicklung zu befördern.

Mehrere ReferentInnen kritisierten die destruktive Rolle des Staatspräsidenten R. T. Erdoğan und der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die den IS seit Jahren u. a. mit Logistik, ungehindertem Grenzübergang für Kämpfer, Material und Waffenlieferungen sowie Gesundheitsversorgung für verletzte Kämpfer gezielt gefördert und unterstützt hätten.

Das erste Podium hatte den Titel »Veränderte Rolle der Kurden während der Neugestaltung des Nahen Ostens – Ein Vergleich der Situation der Kurden der Moderne mit den Kurden im 20. Jahrhundert«. Nilüfer Koç, Co-Vorsitzende des Nationalkongresses Kurdistan (KNK) aus Hewlêr (Arbil) beschrieb, wie wichtig es sei, dass die unterschiedlichen kurdischen Organisationen Demokratische Partei Kurdistans (PDK), Patriotische Union Kurdistans (YNK), Goran, PKK und weitere kleinere Gruppierungen langfristig eine einheitliche Organisierung in der Außen- und Verteidigungspolitik umsetzen. Sie betonte ebenfalls die Notwendigkeit, das veränderte Bewusstsein der KurdInnen auch international zu vermitteln. Mehrfach habe der KNK versucht, die genannten Akteure zu einem gemeinsamen Kongress zu bewegen. Dieses Vorhaben sei bisher aber hauptsächlich an der unnachgiebigen Haltung der PDK gescheitert.

Anhand geschichtlicher Hintergründe beschrieb Nilüfer Koç, wie es immer wieder zur »Spaltung der kurdischen Akteure« gekommen und durch den Vertrag von Lausanne 1923 der Weg für die jeweilige Assimilierungspolitik gegenüber den KurdInnen in Irak, Syrien, der Türkei und Iran geebnet worden sei. Da die Verfassungen in diesen Ländern auf dem Konzept der ethnischen Identität beruhen, sei es zu 29 Aufständen der KurdInnen gekommen, die jedoch aufgrund der Spaltungstendenzen nicht zum Erfolg geführt hätten. Trotz ihrer jeweils differierenden Interessen fänden die regionalen und internationalen Kolonialmächte dagegen immer einen Konsens bezüglich antikurdischer Bündnisse.

Bei der jetzigen Neuaufteilung der Region funktioniere die Spaltung der KurdInnen allerdings nicht mehr so reibungslos, so Koç: »Die emanzipatorischen KurdInnen werden von den Kolonialstaaten als TerroristInnen diffamiert. Viele KurdInnen, Abdullah Öcalan wie auch der KNK verfolgen jedoch das neue Paradigma der Demokratischen Autonomie, das auf einem respektvollen Zusammenleben in kommunalen Einheiten und den Partizipationsmöglichkeiten aller Menschen aufbaut. Dabei fungiert die PKK als ›Brücken-Bauerin‹ zwischen den verschiedenen lokalen Aufständen. In Şengal (Sindschar) und Kobanê führte der Widerstand dazu, dass sich die KurdInnen mit dem gemeinsamen Ziel des Kampfes gegen den Terrorismus des IS vereinigten.«

Die Co-Vorsitzende des KNK forderte dazu auf, dass die selektive, negative internationale Wahrnehmung der KurdInnen überwunden werden müsse. Es sei klar, dass die Region eine globale Bedeutung in geostrategischer Hinsicht und in Hinblick auf die Ressourcen habe. Gerade wegen ihrer demokratischen Ausrichtung sollte die PKK zur Partnerin für die internationale Gemeinschaft werden. »Die KurdInnen stellen die Souveränität der Nationalstaaten trotz systematischen Unrechts nicht in Frage – obwohl zum Beispiel der Iran am 22. September das Todesurteil gegen 110 kurdische PolitikerInnen bestätigte. Die Regierung Erdoğan/Davutoğlu ist mit ihrer Politik der Verhaftungen und militärischen Eskalation der eigentliche Instabilitätsfaktor in der Region«, so Nilüfer Koç.

Prof. Dr. Michael Werz vom »Center for American Progress« und Berater des Weißen Hauses bezeichnete Kobanê als Blaupause für eine neue Nahostpolitik. »Kobanê ist ein zentraler Wendepunkt in Bezug auf die geopolitischen und strategischen Beziehungen zwischen den USA und den KurdInnen.« Noch am 8. Oktober 2014 habe J. Kerry erklärt, dass die Verhinderung des Falls von Kobanê keine strategische Priorität für die USA hat, am 17.10.2014 hätten die USA dann bereits Waffen und Munition für die KämpferInnen der YPG in Kobanê abgeworfen und später den IS in Kooperation mit den kurdischen KämpferInnen bombardiert.

»Es gibt einen Zerfall der alten Systeme und neue Konfliktlinien nach dem Kalten Krieg und die USA agieren als einzige globale Macht«, sagte Werz. Die USA hätten den NATO-Beitritt der Türkei 1952 mit Skepsis betrachtet. Die Polarität im »Kalten Krieg« hätte jedoch dazu geführt, dass den türkischen Regierungen bis heute immer wieder Zugeständnisse gemacht werden mussten. Bis zum Giftgasanschlag in Helebce (Halabdscha) sei die Unterstützung Barzanîs in den 1960er/1970er Jahren oder während des Irak-Iran-Krieges in den 1980ern nicht aus egoistischen Gründen erfolgt, da der Mittlere Osten zu dieser Zeit kein Interessensgebiet der USA gewesen sei. Das Hauptmotiv für die Unterstützung sei deren antisowjetische Haltung gewesen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gäbe es nun eine neue US-Politik. »Kobanê hat für die USA keine geostrategisch wichtige Position, die Unterstützung des Kantons war eine politische Entscheidung. Obwohl die Entscheidung spontan getroffen wurde, waren die Grundlagen vorhanden: Die Beziehungen zur Türkei sind geschwächt, es müssen Stabilitätsfaktoren geschaffen werden. Die türkische Regierung hat ihre Position mit den Ereignissen im Gezi-Park, in Mosul und Kobanê geschwächt.« Auf Nachfrage sagte Werz, dass in den Verhandlungen um die Nutzung des Flughafens von Incirlik die Risiken besser durchdacht hätten werden sollen. Es sei nicht beabsichtigt gewesen, dass die Regierung Erdoğan diesen Deal hauptsächlich dazu nutzt, die PKK und die kurdische Zivilbevölkerung zu bekämpfen.

Sinam Mohamad, Vertreterin der autonomen demokratischen Administration von Rojava, beschrieb, dass sich die KurdInnen im Norden Syriens gemeinsam mit sämtlichen dort lebenden Bevölkerungs- und Religionsgruppen in demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen (TEV-DEM) basisdemokratisch organisiert haben. Sie betonte, dass die multiethnischen und multireligiösen Selbstverwaltungsstrukturen, die dort aufgebaut werden, ein Modell für ein an friedlichen und humanistischen Maßstäben orientiertes Zusammenleben aller Menschen im Mittleren Osten sein können. »Dort leben verschiedene ethnische Gruppen wie KurdInnen, AraberInnen, ArmenierInnen und TschetschenInnen und Religionsgruppen und Glaubensgemeinschaften wie ÊzîdInnen, AlawitInnen, assyrische und chaldäische ChristInnen sowie sunnitische und schiitische Moslems. Es ist wichtig, dass sich die Menschen an der Gestaltung der Gesellschaft und des täglichen Lebens beteiligen.« In Kobanê habe sich gezeigt, dass die YPG/YPJ in Zusammenarbeit mit internationalen Kräften in der Lage sind, den IS zurückzudrängen. Rojava leide weiterhin unter einem Embargo der umliegenden Staaten, auch seitens der Barzanî-Regierung im Nordirak. Es sei unverständlich oder strategisch bedingt, dass auch aus Europa selbst kaum humanitäre Hilfe komme. Am gravierendsten sei allerdings die Politik der AKP, die den IS auch weiterhin unterstütze und alles Erdenkliche tue, um die Selbstverwaltung in Rojava zu zerstören. »Eine Gesellschaft kann nur so weit frei sein, wie die Frauen in ihr frei leben können«, betonte Mohamad.Auf der Expertenkonferenz im September in Berlin

Der Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Dr. Rainer Hermann bestätigte, dass die KurdInnen in Rojava ein Garant für die Demokratisierung der Region und die schrittweise Gleichberechtigung der Frauen seien. In Bezug auf die Politik der Regierung Erdoğan sagte er: »Gegen den Islamischen Staat kämpft die Türkei nur zum Schein. Das wahre Ziel ihrer Angriffe ist die ihr verhasste PKK. Doch das ist selbstzerstörerisch.« Washington und Ankara hätten sich nach zehn Monaten Verhandlungen geeinigt, den US-amerikanischen Kampfflugzeugen die Luftwaffenbasis Incirlik zu öffnen: »Washington versprach sich davon ein neues Momentum im Kampf gegen den IS; Ankara hat aber ganz andere Ziele gehabt.« Erdoğans Kalkül, durch eine Operation gegen die PKK am 1. November gestärkt in die »Wiederholungswahl« zu gehen und für die AKP ein besseres Ergebnis zu erzielen, gehe aber bislang nicht auf. Er spiele mit dem Feuer. Die Gesellschaft in Rojava beschreite dagegen einen Weg, der zum Vorbild für die Region werden könne, so auch der Journalist.

Der österreichische Diplomat und ehemalige Leiter der österreichischen Mission bei der NATO Dr. Karl Schrameck befasste sich mit der Situation im Nordirak und sagte, dass ihn die jüngsten Entwicklungen mit Sorgen erfüllten. Die abgesagte Präsidentschaftswahl im August, die verschlechterte Sicherheitslage wegen des Erstarkens des IS im Nordirak, die verstärkte Einflussnahme der Türkei und das Auseinanderleben von PDK und YNK seien Gründe dafür. In den letzten Monaten habe die Regionalregierung der PDK Barzanîs die im Öffentlichen Dienst Beschäftigten nicht mehr bezahlt. Die lediglich auf Handel orientierte Wirtschaft der Region sei durch die Aggression des IS und eigene Defizite im nachhaltigen Wirtschaften geschwächt. Das führe zu zunehmenden gesellschaftlichen Verwerfungen. »Der Friedensprozess mit Öcalan wurde mit dem vollen Einverständnis des Westens, besonders der USA verkauft«, sagte der Diplomat.

Dr. Dlawer Ala‘Aldeen, Präsident des Middle East Research Institute in Hewlêr, vertiefte die Skizze: »Uns KurdInnen wird immer wieder aufgezwungen, im Rahmen der durch den Vertrag von Lausanne gezogenen Grenzen ohne eigene Rechte zu leben. Die KurdInnen sind zum Element der Stabilität geworden, so wie Nilüfer Koç es in ihrer Rede betont hatte. Es ist nicht leicht, eine Gesellschaft, die über Hunderte von Jahren unterdrückt war, plötzlich demokratisch zu gestalten.« Er beschrieb die Entwicklung des Irak und der unterschiedlichen kurdischen Akteure von 1900 bis heute und versuchte Vorurteile zu benennen, die es zu überwinden gelte. »Wenn man fragt, warum die PKK als eine terroristische Organisation bezeichnet wird, kommt man zu dem Schluss, dass die Einschätzungen der Türkei kritiklos übernommen werden.« Dass PDK wie YNK ebenfalls eine gute Beziehung zum Iran haben, werde ebenfalls ausgeblendet. Europa solle ein globaler Akteur mit einer gemeinsamen Politik im Mittleren Osten werden. Dieser Verantwortung werde die EU nicht gerecht, da sie überhaupt keine Politik entwickle. Die Bundesregierung sei mit der Politik der AKP-Regierung und deren Eskalation des Konflikts nicht glücklich. Für eine langfristige Lösung werde jedoch nichts getan.

Dr. Hişyar Özsoy, Abgeordneter der HDP in der türkischen Nationalversammlung, beschrieb die Situation in der Türkei und die destruktive Politik der AKP. Er ordnete die Politik Erdoğans als aus einer Position der Schwäche heraus entstanden ein. Bei der Machtübernahme der AKP Anfang der 2000er Jahre sei die Partei von vielen regionalen und internationalen Kräften unterstützt worden, da sie Hoffnungen in den von ihr propagierten liberalen Islam setzten. Mit zunehmender Regierungszeit sei jedoch immer deutlicher geworden, dass die AKP die Säkularität beseitigen und Erdoğan eine Art Alleinherrschaft installieren will.

Die neoosmanische Außenpolitik Erdoğans, die unter dem Label »zero conflicts« mit den Nachbarstaaten verschleiert durchgeführt wurde, habe sich mittlerweile zum Desaster entwickelt. Die türkische Regierung sei zunehmend isoliert. »R. T. Erdoğan hat den Friedensprozess aufgekündigt, um einen letzten Versuch zu unternehmen, durch die Destabilisierung des Landes die AKP-Mehrheit zu sichern und die HDP aus dem Parlament zu drängen. Je aggressiver die Regierung dabei agiert und je intensiver sie die Menschenrechte verletzt, umso eher wird das scheitern«, so der Abgeordnete. »In den letzten Monaten wurden mehr als tausend FunktionärInnen und Mitglieder der HDP, GewerkschafterInnen, JournalistInnen, Frauenaktivistinnen und Jugendliche inhaftiert und mehr als fünfzig ZivilistInnen von ›Sicherheitskräften‹ erschossen.« In Cizîr (Cizre), Farqîn (Silvan) und Amed-Sûr (Diyarbakır-Sur) herrsche der Ausnahmezustand. Dass seitens der EU, die Zeiten der Aufklärung und Demokratisierung durchlaufen habe, dazu weitgehend geschwiegen werde, sei nicht richtig. »Wir sind sicher, dass die kurdische Bevölkerung und die HDP auch diese Krise überwinden werden. Aber bis zu einer Demokratisierung der Türkei ist noch ein weiter Weg.«

Nigar Göksel von der »International Crisis Group« bestätigte die Skizze Özsoys und ergänzte sie um die Zahlen der Menschenrechtsverletzungen, die die Menschenrechtsorganisation IHD erhoben hat. Eine kritische Berichterstattung würde zunehmend durch Festnahmen unterbunden, die Gleichberechtigung der Frauen immer weiter ausgehebelt. Göksal beschrieb, wie die HDP für viele Menschen in der Türkei die einzige demokratische Hoffnung sei. Die Einbeziehung sämtlicher Religions- und ethnischen Gruppen sowie der politischen Linken in die HDP sei eine Chance für das Land. Auch sie kritisierte, dass die AKP mit allen Mitteln, auch durch die Unterstützung des IS, die Selbstverwaltung in Rojava destabilisieren wolle und zunehmend die Zivilbevölkerung attackiere. Dass die AKP insbesondere immer mehr radikale Gruppierungen unterstütze und aufbaue, die auch HDP-Büros und -Mitglieder angreifen, sei mehr als bedenklich und würde die türkische Gesellschaft in den Abgrund führen.

Dr. Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) stellte sich die Frage, warum es keine prokurdische Deutschland-Politik gebe. Nach dem Wahlkampf und dem Wahlerfolg der HDP hätten sich Abdullah Öcalan, HDP und PKK zum ersten Mal als legitime Vertreter der nationalen Interessen Kurdistans etabliert. Als Resultat dieser demokratischen Bemühungen seien die KurdInnen in Syrien bewaffnet worden – und das PKK-Verbot habe zur Debatte gestanden. Die SWP setze sich weiterhin für den Dialog ein, auch in der Koordination der strukturellen Interessen in der BRD. Seufert kritisierte die Eskalationspolitik der Regierung Erdoğan und deren Menschenrechtsverletzungen. Ähnlich wie zuvor Dr. Michael Werz kritisierte er auch, dass die PKK als Reaktion darauf den bewaffneten Kampf wieder aufgenommen habe und Anschläge auf Polizisten und Militärs durchführe. Obwohl die Öffentlichkeit positiv gestimmt gewesen sei, handle die PKK damit ihren eigenen Interessen und denen der Selbstverwaltung in Rojava zuwider.

Insgesamt habe der Einfluss der EU auf die Türkei abgenommen, da diese keinen EU-Beitritt mehr anstrebe. Die EU habe keine Türkeipolitik, also auch keine KurdInnenpolitik, und Deutschland werde von der Türkei mit der Flüchtlingskarte erpresst. »Die Entwicklungen in der Region sind rasant. Die KurdInnen werden zunehmend als souverän angesehen und insbesondere die PYD findet zunehmend Anerkennung. Darauf muss auch die deutsche Politik reagieren«, so Seufert.

Die Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE, Ulla Jelpke, kritisierte, dass die Bundesregierungen seit Jahrzehnten keine eigenständige KurdInnenpolitik entwickelten und sich stattdessen über die Interessen des »Waffenbruders« Türkei definierten. Deshalb würden die kurdischen Akteure in gute (PDK und YNK) und böse (PKK) KurdInnen eingeteilt. Seit Şengal und Kobanê habe sich die Wahrnehmung geändert. Sie beschrieb die Geschichte des PKK-Verbots, die Kriminalisierung sämtlicher politisch aktiven KurdInnen, den Mord an dem Jugendlichen Halim Dener in Hannover und die PKK-Prozesse in den 1990er Jahren, die ihr Äquivalent in den heutigen § 129 b-Verfahren fänden.

In der Bundesrepublik Deutschland werde die PKK seit 2010 als sog. »internationale terroristische Vereinigung« nach § 129 b Strafgesetzbuch (StGB) verfolgt. Zahlreiche angebliche PKK-AktivistInnen wurden und werden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. »Dabei geht es, im Gegensatz zu früheren Verfahren gegen die PKK gemäß den §§ 129 a oder 129 StGB, nicht mehr darum, ob die PKK oder die beschuldigten AktivistInnen in Deutschland Straftaten begehen. Die entscheidende Voraussetzung für eine etwaige Verfolgung und Strafbarkeit ist die Frage, ob die PKK in der Türkei bzw. überall dort, wo sie bewaffnet kämpft, eine terroristische Vereinigung ist oder ob sie legitimen Widerstand gegen systematisches Unrecht leistet, das auch immer wieder das Ausmaß eines physischen und kulturellen Genozids angenommen hat«, so Jelpke.

Da die Ermächtigung zur Verfolgung gemäß § 129 b vom Justizministerium erteilt wird, sei die Gewaltenteilung ausgehebelt. Das sei verfassungswidrig. »Das PKK-Verbot muss endlich aufgehoben werden«, so Jelpke. »Es darf nicht sein, dass wegen der Loyalität zur Türkei kein Druck gegen die aggressive Politik Erdoğans und wegen der Aufkündigung des Friedensprozesses gemacht wird.« Auf parlamentarische Anfragen der Partei DIE LINKE zur Unterstützung des IS durch die Türkei sei die Zusammenarbeit bestätigt worden, die Abgeordneten seien jedoch dazu aufgefordert worden, die Informationen geheim zu halten, da sie vertraulich seien. In Anbetracht des Wissens um eine derartige Zusammenarbeit nicht offensiver dagegen vorzugehen, sei zynisch.

Anschuldigungen eines Teilnehmers, dass die PKK in organisierte Kriminalität verwickelt sei, wiesen Dr. Günter Seufert, Ulla Jelpke und eine Juristin zurück. Sie skizzierten, dass dies in keinem Fall bestätigt worden sei und derartig propagandistische Anschuldigungen in heutigen Prozessen gemäß § 129 b keine Rolle mehr spielten. »Sämtliche politischen Gefangenen KurdInnen müssen sofort frei gelassen, das Embargo gegen Rojava muss aufgehoben und auch die PKK als Dialogpartner anerkannt werden«, erklärte Ulla Jelpke abschließend.

Im Foyer wurde in den Pausen intensiv diskutiert. Eine Teilnehmerin sagte im Gespräch zur Frage, die Dr. Günter Seufert auf dem Podium aufgeworfen hatte, warum die PKK erneut bewaffnete Aktionen durchführt. »Die türkische Regierung begeht systematisch Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Täglich werden völkerrechtswidrig vermeintliche Stellungen der PKK bombardiert. Im letzten Monat wurden mehr als fünfzig ZivilistInnen von Polizei und Militär, oft von Scharfschützen, gezielt ermordet. Mehrere Städte sind belagert. Die Leidensfähigkeit der KurdInnen wird insbesondere auf die Probe gestellt, weil die internationalen Kräfte nichts gegen die menschenfeindliche Politik der AKP tun. Da die PKK keine andere Wahl hat und noch immer nicht von der EU zum Dialog geladen wird, muss sie mit den ihr möglichen Mitteln agieren. Die PKK hat mehrfach betont, dass sie grundsätzlich für Frieden, Demokratie und ein respektvolles Zusammenleben steht und zum Waffenstillstand zurückkehrt, sobald die türkische Regierung ihre Aggression beendet. Sie hat aber auch die Aufgabe, die kurdische Bevölkerung zu schützen. Die Logik der Analyse sollte sich ändern – die richtige Frage wäre: Warum können R. T. Erdoğan und die AKP systematisch zu Mitteln des Staatsterrorismus greifen, ohne dafür sanktioniert und international isoliert zu werden?«