Eine demokratische Nation aufzubauen und die demokratische Autonomie voranzutreiben, sind die derzeit wichtigsten Aufgaben:

Visionen mit Leben füllen

Demir Çelik

Auf der ganzen Welt finden wir tiefe politische, gesellschaftliche und ökologische Zerstörungsprozesse, die aus der nationalstaatlichen Mentalität zu verantworten sind. Mit ihrem rigiden Zentralismus und Alleinvertretungsanspruch und der faschistischen Diktatur als Einpersonenherrschaft führt der militaristische Nationalstaat zu politischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Problemen, denen mit den vorherrschenden Verwaltungsapparaten und politischen Strukturen nicht mehr beizukommen ist. Die türkische Variante des Präsidialsystems beispielsweise bedeutet die weitere Zentralisierung eines ohnehin schon zentralistischen Staatsapparates. Damit können die bestehenden Probleme nicht gelöst werden. Ein demokratischeres System als das jetzige darf man sich vom Präsidialsystem nicht erwarten.

Mit den Wahlen vom Juni 2015 sollte dieses antidemokratische Präsidialregime eingeführt werden. Allen Widrigkeiten zum Trotz erzielte die Demokratische Partei der Völker (HDP) einen qualitativen Erfolg, der jedoch ebenso wie die Wähler*innenentscheidung insgesamt nicht akzeptiert, sondern ignoriert worden ist. Im nächsten Schritt wurde der Gesellschaft der Krieg erklärt. Gegen diesen ungerechtfertigten, schmutzigen und barbarischen Krieg ist die Bevölkerung in die legitime Position der Selbstverteidigung gerückt.

Da das System darauf beharrt, die kurdische Frage nicht lösen zu wollen, kann es auch die akkumulierten Probleme in der Gesellschaft nicht beheben und sieht als einzigen Ausweg den Krieg. Es lehnt die Lösungsperspektive der kurdischen Bewegung ab und hat den Verhandlungstisch bisher jedes Mal umgestoßen, bevor es zu einem qualifizierten Verhandlungsprozess kommen konnte. Staatspräsident Erdoğan hat sich allerdings nicht damit begnügt, ein weiteres Mal den Verhandlungstisch umzustoßen, sondern der kurdischen, politischen Bewegung, die eine Konfliktlösung verteidigt und soweit möglich voranzutreiben bemüht war, gleich komplett den Krieg erklärt. Die kurdische Bevölkerung hat sich dieser nicht zu rechtfertigenden Auseinandersetzung, die auf genozidale Vernichtung abzielt, entgegengestellt. Ihre Antwort lautet: Wenn unser Wille nicht anerkannt wird, wenn die Grundrechte als Luxus angesehen und uns vorenthalten werden, dann werden wir Selbstverwaltungsorgane schaffen, um uns erstens gegen die Angriffe zu schützen und zweitens unsere Rechte zu verwirklichen. Das muss zwangsläufig geschehen. Damit hat die Gesellschaft die Selbstverwaltungen aufgebaut. Denn die Gesellschaft ist nicht statisch. Sie kann ohne Lösungen nicht überleben. Sie leistet Widerstand und entwickelt eigene Lösungsalternativen.

Eine demokratische Nation aufzubauen und die demokratische Autonomie voranzutreiben, ist die derzeit wichtigste Aufgabe. Es geht darum, Visionen jetzt mit Leben zu füllen. Wenn uns das nicht gelingt, wird der Staat uns unsere Freiheit bewusst und gezielt verwehren. Der einzige Weg ist, sie mittels unserer eigenen Stärke als Gesellschaft zu gewinnen, ohne etwas vom Staat zu erwarten.

Für die Selbstverwaltungen, die durch die demokratisch legitimierte Eigenorganisierung der Gesellschaft errichtet werden, braucht es keine Form staatlicher Organisation. Die demokratische Autonomie stützt sich, dem Staate zum Trotz, auf die zivile, demokratische Organisierung der Gesellschaft. Auf der Grundlage des Prinzips Staat plus Demokratie sollen jenseits des Staates und neben dem Staat in den Dörfern, Kommunen, in den Stadtteilen und im urbanen Raum Bürger*innenparlamente eingerichtet werden, in denen die Bewohner*innen sich selbst verwalten. Je stärker und umfangreicher diese Organe der Selbstverwaltung werden, desto eher lässt sich der Staat auf Verhandlungen ein.
Die Selbstverwaltung und Selbstverteidigung der Gesellschaft basiert auf Prinzipien des universellen Rechts und auf den rechtlichen Prinzipien einer ökologischen und demokratischen Gesellschaft.

Die Gesellschaft hat das Recht, gegen Hierarchie und Staatsmacht ihre Sprachen, ihre Kulturen, ihre Identitäten, ihren Status und ihre politische und soziale Existenz zu schützen sowie die Rechte auszuüben, die sich aus dem De-facto-Status als eigenständiges Volk ergeben.Leben unter Belagerung - Barrikade in Amed | Foto: Hinrich Schultze, www.dokumentarfoto.de

In der Natur gibt es kein einziges Lebewesen, das sich nicht selbst verteidigt. Jedes Lebewesen verfügt über ihm eigene Verteidigungsmechanismen, um sein Leben zu schützen, seine Bedürfnisse zu decken und seinen Fortbestand zu sichern. Unter den Lebewesen ist der Mensch das einzige, das seine Selbstverteidigung bewusst einsetzen und weiterentwickeln kann. Die Geschichte der Menschheit ist in gewisser Hinsicht auch die Geschichte der Weiterentwicklung dieser Selbstverteidigung. Im Laufe ihrer Geschichte hat sich die Menschheit auf dem Weg vom Clan zum Stamm, von der Stammesgemeinschaft zur Nation, vom Dorf zur Stadt stets im Zustand der Selbstverteidigung befunden. Selbstverteidigung ist sowohl als Schutz vor Angriffen von außen als auch zum Erreichen einer ethischen und politischen Gesellschaftsordnung von existentieller und grundlegender Bedeutung.

Selbstverteidigung ist in hierarchischen Gesellschaften die Sicherheitspolitik, die zum Erreichen eines ethischen und politischen Gemeinwesens führt. In diesem Sinne lässt sie sich nicht bloß auf militärische Maßnahmen und eine Sicherheitspolitik beschränken. Vielmehr ist Selbstverteidigung ein fundamentaler Faktor in der Herausbildung einer Gesellschaftsordnung, da sie auf der zivilen und demokratischen Organisierung der Gesellschaft basiert.
Das Volk Kurdistans hat im Laufe der Geschichte von den ersten bis zu den heutigen Besatzungsmächten durchgehend im Zustand der Selbstverteidigung gelebt. Alle historischen Aufstände sind eine Form von Selbstverteidigung. Da die Verleugnungs-, Vernichtungs- und genozidale Politik gegen die Kurdinnen und Kurden weitergeht, muss ihre Selbstverteidigung kräftiger und effizienter sein als zuvor.

Die Kurd*innen haben durch den Kampf der letzten vierzig Jahre im Allgemeinen und die Erfahrung als ein Volk ohne eigenen Staat in den letzten zwanzig Jahren im Besonderen wichtige Möglichkeiten erlangt, um ihr eigenes demokratisches und autonomes System zu organisieren und auszubauen.

Selbstverteidigung ist einerseits ein historisch tradiertes Recht und wird andererseits in internationalen Abkommen und im UN-Übereinkommen über die Rechtsstellung von Staatenlosen anerkannt und rechtlich abgesichert. Bis der Staat die demokratische Autonomie anerkennt und ein freies und demokratisches Leben der Kurd*innen akzeptiert, ist es für die Kurd*innen ein sich aus ihrem Status als staatenloses Volk ableitendes Recht, ihre Selbstverteidigung wirksam auszuüben.
Die Selbstverteidigungspolitik der gegenwärtigen Phase zielt darauf ab, die Existenz der Kurd*innen gegen die Kriegs- und Vernichtungspolitik zu schützen, ihre politischen, sozialen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Werte gegen die Assimilation zu schützen, zu pflegen und zur gesamtgesellschaftlichen Weiterentwicklung beizutragen. Diese Politik muss gleichzeitig darauf hinwirken, die Gesellschaft mit ethischen Werten und Moralvorstellungen gegen das Rechtsverständnis der Hierarchie zu wappnen. Denn ohne ethische Werte und Moralvorstellungen kann keine juristische Regel im wirklichen Sinne Gerechtigkeit und Freiheit sicherstellen. Die Gesellschaft muss anstelle des Rechts der Hierarchie, welches Privateigentum und Machthaber schützt, ihr eigenes, natürliches Gesellschaftsrecht als Bezugspunkt nehmen – und dieses speist sich aus ethisch-moralischen Werten.

Selbstverteidigung im Sinne der demokratischen Autonomie darf nicht nur als eine bewaffnete Struktur verstanden werden. Vielmehr drückt sie die Organisierung der Identitäten, Sprachen und Kulturen der Gesellschaft in ihren jeweils eigenen Lebensbereichen aus. Selbstverteidigung kann nicht darauf beschränkt werden, Menschen zu bewaffnen oder bewaffnete Strukturen aufzubauen und auszuweiten. Gegen die militärischen, politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Angriffe und Belagerungsversuche des macht- und staatszentrierten Systems gilt es, die Sicherheit der Gesellschaft als Ganzes zu organisieren. So ist Selbstverteidigung zu verstehen.

Selbstverteidigung muss verstanden werden als eine umfassende Organisierung der demokratischen Gesellschaft in jedem Bereich, mit der Herausbildung von Institutionen und der Entwicklung eines – auf der eigenen Kraft basierenden – eigenen Sicherheitssystems. Selbstverteidigung hat eine wichtige historische Rolle: den Kampf gegen die kolonialistischen Mächte auf der Grundlage der organisierten Kraft der Gesellschaft zu führen und deren geraubte Rechte wiederherzustellen.
Genozid ist die Gesamtheit der von organisierten Kräften bewusst, koordiniert und planvoll durchgeführten physischen, politischen, kulturellen, sozialen und ökologischen Zerstörungen, die zur Auslöschung eines Volkes oder einer Gesellschaft führen sollen. Genozid besteht nicht nur aus ethnischen Säuberungen.

Ebenso wie auf physischer Ebene wird Völkermord auf sprachlicher, kultureller Ebene verübt. Er gilt im internationalen Recht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unsere Kommunen, Stadtteil- und Stadtparlamente, unsere Akademien, Solidaritätshäuser, Kongresse und Räte sind jeweils Organe der Selbstverteidigung gegen diese Verbrechen.

Die Organisierung der kurdischen Sprache und Kultur gegen den kulturellen Genozid geschieht im Rahmen der Selbstverteidigung. Die Formen organisierten Kampfes gegen den politischen Genozid wie zivile Freitagsgebete, Schul- und Universitätsboykotte sowie Wahlboykott sind Selbstverteidigung. Die auf kollektiver Arbeit beruhenden, antimonopolistischen Produktions- und Verbrauchsgemeinschaften sind eine Form der Selbstverteidigung gegen die ökonomische Vernichtung.

Dass sich eine Gesellschaft gegen Genozid und eine Politik der Zerstörung schützt, indem sie sich demokratisch organisiert, ist ihr natürlichstes Recht. Das macht- und staatszentrierte System ist gar nicht in der Lage, willentlich und wissentlich friedliche, demokratische Lösungen zu entwickeln. Freiheit und Frieden sind so grundlegend menschliche Werte, dass man sie gar nicht dem Staat überlassen darf. Diese Werte wurden durch die Geschichte hindurch immer wieder von Staaten kolonisiert und die Menschheit in Geiselhaft genommen. Da der Staat selbst keine legitime Institution ist, dürfen wir nicht von ihm erwarten, dass er uns unsere Rechte gibt. Im Gegenteil müssen wir uns auf die Legitimität des organisierten Kampfes auf der Grundlage unserer eigenen Kraft konzentrieren, um uns von ihm zurückzuholen, was er uns genommen und kolonisiert hat.

Die Bemühungen, in Kulturzentren die kurdische Kultur zu pflegen und zu entwickeln, in Bildungszentren muttersprachlichen Unterricht zu erteilen, in Frauenzentren den Frauen zu einem Bewusstsein zu verhelfen, das ihrer Emanzipation zuträglich ist, sind vor diesem Hintergrund zu verstehen. Wenn in Gesundheitszentren kostenlose Gesundheitsdienste in der Muttersprache angeboten werden oder wenn in Volkshäusern eine zivile, demokratische Organisierung der Wohnviertel entwickelt wird, dann auf der Grundlage besagter Gesetzlichkeit.

Auch wenn in den Provinz-Versammlungen versucht wird, Siedlungen ihre kurdischen Namen zurückzugeben, und Berge, Täler, Seen und Landstriche auf kurdischsprachigen Schildern, in den Medien, Broschüren, Plakaten etc. vorgestellt werden, so zählen diese organisierten Initiativen gegen die verbotsorientierte Mentalität des Staates zur Selbstverteidigung.

Wenn das Volk in den Städten und Dörfern gegen die faschistischen und genozidalen Angriffe bewusst und organisiert kämpft und damit den Widerstand verstärkt, kann der Staat einen Schritt zurückweichen. Was in Silopi, Gever (Yüksekova), Cizîr (Cizre), Farqîn (Silvan), Sûr, Colemêrg (Hakkâri), Pîran (Lice) und Gimgim (Varto) geschehen ist, bietet viele wertvolle Beispiele hierfür. Das Volk hat dem faschistischen Staat Einhalt geboten und in seinen Selbstverwaltungen politische, soziale, kulturelle und rechtliche Angelegenheiten selbst geregelt. Die Menschen beziehen sich dabei auf die Legitimität ihres Handelns.

Sie haben menschliche Schutzschilde gegen Militäroperationen gebildet, ihre Guerillakämpfer*innen und ihre Umwelt geschützt, sie haben dort, wo es nötig war, ihre Straße, ihre Siedlungen und ihre Stadt geschützt. In gleicher Form haben sie Widerstand gegen Operationen des politischen Genozids geleistet und die zivile demokratische Organisierung der Bevölkerung gegen die außergerichtlichen Hinrichtungen und unrechtmäßigen Verhaftungen durch den Staat vorangetrieben. Die Menschen haben gegen die Krisen und das Chaos, welche die Legislative, Exekutive und Judikative des Staates hervorbringen, auf der Grundlage der ethisch-moralischen Regeln der Gesellschaft ihre eigenen, legitimen politisch-sozial-ökonomischen Bedürfnisse mithilfe der Selbstverwaltungsorgane gedeckt.Menschliche Schutzschilde gegen Militäroperationen in Gever | Foto: DIHA

Auch gegen die Drogenproblematik, Spielsucht und Prostitution, welche mit der Verleugnungs- und Vernichtungspolitik in die Gesellschaft getragen wurden, hat sich die Bevölkerung mit ihren Selbstverwaltungsstrukturen gestellt. Die Menschen bemühen sich, ihre Gesellschaft zum Besseren, Schöneren und Gerechteren hin zu verändern. Gleichzeitig bringt die Organisierung eine Politisierung und eine gesellschaftliche Erweiterung für diese Bemühungen mit sich.

Ganz vorn in den Reihen stehen die Jugendlichen und Frauen, wenn sich der Widerstand mit Volksaufständen äußert, die den schmutzigen und barbarischen Krieg stoppen sollen, der den Menschen in Kurdistan erklärt wurde. Nicht nur die demokratische Autonomie, sondern auch das Überleben des kurdischen Volkes ist bedroht. Aus diesem Grund ist es die erste patriotische Pflicht, dass alle Mitbürger*innen sich aktiv beteiligen, das Leben zu schützen und das eigene politische System und die eigene Gesellschaftsordnung aufzubauen.

Ebenso ist die Verteidigung von Landflächen, Wasserressourcen und Energiequellen gegen die kolonialistische Besatzung Selbstverteidigung. Dazu gehört auch eine klare Haltung gegen die türkische Armee, die Besatzungsmacht einzunehmen; den Kriegsdienst zu verweigern oder ihm auszuweichen ist Selbstverteidigung.

Niemand hat das Recht, die Bevölkerungszusammensetzung Kurdistans zu manipulieren. Wir müssen uns gegen Zwangsvertreibungen, Exil und Assimilation stellen. Der Widerstand gegen den Bau von Straßen zu Militärzwecken, gegen Staudämme und Kernkraftwerke ist eine menschliche Pflicht. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Umwelt zerstört und die Landschaft verbaut wird, während gleichzeitig bestehende Siedlungen zwangsevakuiert oder gar zerstört werden. Die Artenvielfalt der Flora und Fauna Kurdistans zu schützen ist ebenfalls ein Teil der Selbstverteidigung und ein Teil der historischen Aufgabe, den Fortbestand des Ökosystems zu gewährleisten.