Interview mit dem Volksratsvorsitzenden von Şengal, Seid Hisen

Șengal ein Jahr nach Beginn des Genozids

Michael Knapp

Der Beginn des jüngsten Genozids an der êzîdischen Bevölkerung des im Nordirak gelegenen Șengal-Massivs durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) jährte sich am 3. August. Șengal (Sindschar) hatte seit 2003 de facto unter der Kontrolle der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) gestanden. Trotz mehrfacher Warnungen und Massaker an der êzîdischen Bevölkerung hatte die PDK die Selbstbewaffnung der ÊzîdInnen mit aller Gewalt zu verhindern gesucht. Als der IS vorrückte, zogen nach Angaben aus der Bevölkerung der Stadt Șengal (liegt südlich des Şengal-Massivs) die dort stationierten Peschmerga der PDK Mesûd Barzanîs, die dieses Gebiet beansprucht, heimlich all ihre schweren Waffen und Einheiten angeblich aus »strategischen Gründen« ab und ließen die Bevölkerung der Stadt nahezu schutzlos zurück. Der IS fiel in Șengal ein, Hunderttausende flohen in die Berge; wer nicht fliehen konnte, wurde ermordet, versklavt oder verschleppt. AugenzeugInnen bestätigen das: »Wir haben die fliehenden Peschmerga um ihre Waffen gebeten, sie angefleht, uns wenigstens Munition dazulassen. Wir baten darum, dass sie uns zumindest die kürzlich von den irakischen Kräften zurückgelassenen Waffen geben. Alles wurde nicht nur abgelehnt, uns wurden sogar noch unsere eigenen Waffen abgenommen.« (http://dtj-online.de/irak-jesiden-peschmerga-isis-is-verrat-34367)

Stimmen innerhalb der êzîdischen Bevölkerung wurden laut, die Peschmerga hätten die ÊzîdInnen aus politischem Kalkül verraten. Dieser Vertrauensverlust könnte indes weitreichende Konsequenzen für die nordirakische KurdInnenregion haben. Die Bevölkerung war auf dem Șengal-Berg eingeschlossen, verteidigt von einer kleinen Einheit der kurdischen Guerilla HPG (Volksverteidigungskräfte). Auf dem Berg begannen die Menschen zu verdursten und unter Mühen konnten die Volks-/Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus dem nordsyrischen Rojava einen Korridor dorthin freikämpfen, über den Hunderttausende flohen. Die PDK, zuvor in Șengal stark organisiert, hatte damit jegliche Glaubwürdigkeit bei der Mehrheit der verbliebenen êzîdischen Bevölkerung eingebüßt.

Politisch drängte sie weiter darauf, dass Șengal nicht zu verteidigen sei und die Menschen die Region verlassen sollten. Es häufen sich Berichte êzîdischer Flüchtlinge, die aus Südkurdi­stan nicht mehr nach Șengal zurückgelassen werden. Die Mehrheit der verbliebenen etwa 12 000–14 000 BewohnerInnen von Șengal hat daher jegliches Vertrauen in die Barzanî-Regierung verloren und manche gehen sogar so weit, sich selbst nicht mehr als KurdInnen zu definieren. Die Verteidigung Șengals durch HPG und YPG/YPJ und die Gründung der Șengal-Widerstandseinheiten (YBȘ) und der Frauenverteidigungseinheiten Șengal (YPJ-S) führten dazu, dass sich viele Menschen mit dem Modell der demokratischen Autonomie, wie es in Rojava gelebt wird, identifizieren, und ein Großteil der êzîdischen Bevölkerung, auch viele von denen, die sich nicht mehr als KurdInnen definieren, haben sich diesem Modell zugewandt, da es ein freies Leben entsprechend der eigenen Definition von Identität ermöglicht.

Die Organisierung eines autonomen Volksrats von Șengal rief jedoch die Hegemonialkräfte der PDK auf den Plan, die ein Embargo über Șengal verhängt haben und repressiv gegen die Selbstverwaltung von Șengal und die sie unterstützenden Kräfte in Rojava und Südkurdistan vorgehen. Die PDK versucht sowohl in Flüchtlingslagern als auch in Șengal für eigene Milizen, die auch gegen die Selbstverwaltung arbeiten, Geld, Waffen und Munition zu schicken und sie auszubilden, während die Anerkennung des Volksrats von Șengal verweigert wird, und nach Angaben des Volksratssprechers Munzur Dersim werden junge Leute, die sich den YBȘ und YPJ-S anschließen wollen, immer wieder inhaftiert. (http://ekurd.net/tevda-barzanis-kdp-must-stop-attacks-on-yazidi-organisations-2015-04-15)

Ein prominentes Beispiel ist hier Heydar Şeşo, dessen Miliz HPȘ (Verteidigungskraft Șengal) auch Unterstützung aus dem Zentralirak erhalten hatte. Deshalb wurde er von der PDK inhaftiert und musste erklären, dass es den Angehörigen der HPȘ »freigestellt« sei, sich dem Peschmerga-Ministerium zu unterstellen.

Interessanterweise werden genau diese Kräfte, die dem Hegemonialstreben der PDK entsprechen, von der deutschen Bundesregierung unterstützt, um eigene êzîdische Milizen unter Kontrolle des Peschmerga-Ministeriums (im Moment in der Hand der Gorran-Bewegung) und der PDK-Regierung Südkurdistans aufzubauen. Nach eigener Verlautbarung interessiert es die Bundesregierung dabei wenig, welche Gruppen ausgebildet werden, die Vorauswahl trifft die Regionalregierung: »Die Auswahl des auszubildenden militärischen Personals der Sicherheitskräfte der Region Kurdistan-Irak wird eigenverantwortlich durch die zuständigen Stellen der Regierung der Region Kurdistan-Irak durchgeführt. Deutschland nimmt keinen direkten Einfluss auf die entsprechenden Auswahlentscheidungen dieser Stellen. Gleiches gilt für die Verteilung des von Deutschland in Abstimmung mit der irakischen Zentralregierung gelieferten Materials. Darüber hinaus liegen der Bundesregierung keine gesonderten Erkenntnisse vor.« (Bundestagsdrucksache Nr. 18-5470 vom 02.07.2015)Der Beginn des jüngsten Genozids an der êzîdischen Bevölkerung des im Nordirak gelegenen Șengal-Massivs durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) jährte sich am 3. August. Vor den Angriffen des IS lebten 400 000 ÊzîdInnen in Şengal, nun sind nur noch 10 000–12 000 dort, der Rest ist geflohen. Foto: DIHA

Im Anschluss dokumentieren wir ein Interview mit dem Volksratsvorsitzenden von Șengal, Seid Hisen:

Bitte beschreiben Sie die aktuelle Lage in Șengal.

Die Stadt Şengal ist teilweise befreit und YPG/YPJ und HPG kämpfen. Die meisten ÊzîdInnen lebten im Süden von Şengal in Ba´aj (Kleinstadt, 35 km südlich von Şengal), unter anderem auch wegen Zwangsumsiedlungen der êzîdischen Bevölkerung durch das Baath-Regime in die Ebene bei Ba´aj. Dieser Teil Şengals wird weiterhin vom IS kontrolliert, während der nördliche, in Richtung Südkurdistan und Mossul, von den YBȘ und HPG verteidigt wird. Es lebten 400 000 ÊzîdInnen in Şengal, nun sind nur noch 10 000–12 000 dort, der Rest ist geflohen. Vor dem Angriff war die vom vorrückenden IS ausgehende Gefahr erkannt worden, vor allem auch im Westen bei Mossul und Tell Afar, wo ebenfalls ÊzîdInnen lebten. Deshalb wurden die dort stationierten Peschmerga der PDK und die südkurdische Regionalregierung darüber informiert. Die Warnungen wurden aber ignoriert und sie haben sogar verhindert, dass sich die ÊzîdInnen als Verteidigungskräfte organisierten, und ihnen die Waffen abgenommen. Sie wussten ganz genau, dass den ÊzîdInnen Schreckliches angetan werden würde, wenn der IS in Şengal einfällt.

Nach dem 10.06.2014 und dem IS-Überfall auf Mossul und Tell Afar haben viele die Gefahr gesehen und insbesondere die Ältesten, aber auch etliche andere, wandten sich an TEVDA, dass wir die HPG zur Unterstützung bei der Verteidigung von Şengal rufen. Das haben wir auch getan, aber vor allem Menschen, die der PDK nahestanden, erklärten: »Ihr braucht Euch doch keine Sorgen machen, es gibt eine Übereinkunft zwischen PDK und IS, sie werden die ÊzîdInnen nicht angreifen.« Damit wurde die Bevölkerung hingehalten und in Sicherheit gewiegt. Nach dem IS-Angriff auf Şengal wurden wir von den YPG/YPJ aus Rojava und den HPG gerettet. Die PDK-Peschmerga hatten sich zurückgezogen und die Menschen ihrem Schicksal überlassen. Die PDK kann auch durch die Lügen, die sie nun verbreitet, ihr Verhalten nicht wieder gutmachen. Sie haben die ÊzîdInnen schutzlos zurückgelassen; egal wen von den Überlebenden Du fragst, jedes fünfjährige Kind kann das bestätigen, was ich sage. Es liegen Presse- und Fernsehberichte vor, die zeigen, wie die Peschmerga weggelaufen sind. Eine Truppe von dreißig Peschmerga wurde später nach Şengal geschickt, das wurde ihnen von unserer Seite aus ermöglicht, aber hätten wir sie nicht geschützt, dann hätten sie die Frauen und Kinder aus Entrüstung über deren vorherigen Abzug mit Steinen angegriffen.

Sind die PDK-Peschmerga einfach geflohen oder stand dahinter eine politische Absicht?

Es hatte auf jeden Fall eine Absprache gegeben zwischen IS und Peschmerga. Mit dem Abzug der Peschmerga marschierte der IS ein. Der Hintergrund ist ein religiös-politischer. ÊzîdInnen gelten als Ungläubige, deren Tod Vorteile bringt. Bei der Übereinkunft zwischen PDK, internationaler Gemeinschaft und IS wusste die internationale Gemeinschaft vielleicht nicht, welche Ausmaße das annehmen würde, aber der PDK war klar, dass wir als ÊzîdInnen Freiwild für den IS sein würden. Das Ziel war es, die ÊzîdInnen komplett auszurotten, aus Şengal zu verjagen. Im Irak besteht auch der Konflikt zwischen Zentral- und [kurdischer] Regionalregierung und mit der Belagerung durch den IS erhoffte sich die PDK, gegen den IS Şengal annektieren und dann behaupten zu können: Wir haben Şengal befreit.

Was ist TEVDA?

Die »Demokratische Freie Êzîdische Bewegung« TEVDA ist eine Bewegung mit einer politischen wie auch gesellschaftlichen Dimension, die sich vor allem für die Belange der êzîdischen Bevölkerung einsetzt. Sie wurde 2004 gegründet. Ich bin seit 2006 Vorsitzender. Wir haben Mitglieder innerhalb und außerhalb des Irak. Sie arbeitet politisch und kulturell und macht ebenfalls Bildungsarbeit.

Es wird immer wieder viel über die Gründung eines Kantons Șengal nach dem Modell Rojava diskutiert – gibt es dazu aktuelle Entwicklungen?

Durch die Gründung des Volksrats Şengal ist dafür eine Grundlage geschaffen worden. Wir betreiben die diplomatische Arbeit in Europa und versuchen auch in der Diaspora ein Meinungsbild zu ermitteln. Mit der nötigen Unterstützung werden wir im Rahmen des Irak einen autonomen Kanton ausrufen. Das würde auch der irakischen Verfassung entsprechen und wir sind optimistisch, dies bald tun zu können. Wir wollen das gleiche Modell wie in Rojava aufbauen. In der Stadt Şengal herrscht Krieg, daher konnten dort noch keine autonomen Strukturen gebildet werden, weil dort niemand wohnt und nur KämpferInnen von HPG, YBȘ und YPJ-S sind, die Peschmerga sind weit weg. In den Bergen sind etwa 1200 Familien, also 10 000–12 000 Menschen, es gibt ein Embargo der Regionalregierung, das bedeutet, Lebensmittel und Hilfsgüter kommen über den Kanton Cizîrê aus Rojava in die Region. Das Embargo besteht immer noch, so wurden von der PDK beispielsweise erst vor Kurzem 52 Zelte aus Frankreich nicht in die Region gelassen und beschlagnahmt. Es wird keine humanitäre Hilfe durchgelassen.

Können Sie etwas zur Zahl der verschleppten Frauen und Kinder sagen?

Die Zahl der Kinder und Frauen in IS-Gefangenschaft liegt zwischen 7 000 und 10 000. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen noch leben, verkauft oder umgebracht worden sind. Wir wissen, dass die Mädchen im Alter von dreizehn Jahren zwangsverheiratet werden, die Kinder werden den Müttern weggenommen und mit älteren Männern verheiratet. 46 Frauen haben ihre Rettung im Suizid gesehen. Es konnten 996 Gefangene befreit werden, davon 226 Frauen. Ich muss hier kritisieren, dass die internationale Frauenbewegung und Frauenrechtsorganisationen dazu nicht viel gesagt haben.

Wie gehen die Familien mit aus der Gefangenschaft befreiten Frauen um?

Die Familien freuen sich, dass die Frauen wieder zurückkommen, diese werden von ihren Familien begrüßt.

Gibt es in Șengal eine ähnliche Form der Frauenorganisierung wie in Rojava?

Es gibt auf allen Ebenen Frauenorganisierung. Acht Schulen wurden errichtet und Frauen organisieren sich in Komitees und in den YBŞ. Wir haben nicht das Organisationsprinzip von Vorsitzenden, sondern von SprecherInnenkomitees, drei Frauen, vier Männer, und der Vorsitz wechselt alle drei Monate.

Wie ist die Situation der êzîdischen Bevölkerung in Flüchtlingslagern?

Die Situation in den Lagern in Südkurdistan ist für ÊzîdInnen sehr gefährlich. Es gibt zahlreiche Krankheiten. Die Menschen werden, wenn keine weitere Hilfe kommt, die Region komplett verlassen. In den Lagern gibt es Schwierigkeiten, viele junge Leute wollen den YBŞ beitreten, aber sie werden von der PDK behindert, selbst Menschen, die ihre Familie besuchen wollen, werden von der PDK festgenommen.

Was ist Ihr Selbstverständnis, verstehen Sie sich als ÊzîdInnen oder KurdInnen?

Die Diskussion ist so nicht richtig, eigentlich sind alle KurdInnen ursprünglich ÊzîdInnen. Wer behauptet, ÊzîdInnen seien keine KurdInnen, liegt völlig falsch. Das hat damit zu tun, dass wir oftmals der Verfolgung ausgesetzt waren durch den Islam, auch von islamischen KurdInnen; das ist eine Reaktion darauf, aber ohne Zwangsislamisierung sind eigentlich alle KurdInnen ÊzîdInnen.

Wie sieht es mit der arabischen Bevölkerung aus?

Viele vom Baath-Regime angesiedelte AraberInnen, aber auch sunnitische KurdInnen unterstützten stark den IS, und sie gingen mit ihm zusammen sofort gegen die ÊzîdInnen vor, haben sie terrorisiert, verschleppt. Die Einzigen, die mit in die Berge gegangen sind, sind die schiitischen AraberInnen. Es gibt auch ChristInnen und SchiitInnen in Şengal neben den 85 % ÊzîdInnen, mit ihnen gibt es keine Probleme, und auch mit den sunnitischen AraberInnen, die keine Verbrechen begangen haben, können wir in Zukunft gern zusammenleben.

Wann wird Șengal Ihrer Meinung nach frei sein?

Ich bin sehr zuversichtlich, Șengal hat zwar für den IS strategische Bedeutung und wird daher besonders angegriffen, aber der Mythos seiner Unbesiegbarkeit ist gebrochen. Er hat große Angst vor unseren Einheiten. Wenn YPG, YBŞ und HPG zusammen vorrücken, dann wird Şengal bald befreit werden. Die [Anti-IS-]Koalition hätte das innerhalb einer Woche bewerkstelligen können.

Was sind Ihre zentralen Forderungen?

Wir brauchen als ÊzîdInnen Autonomie und die Stärkung der Selbstverteidigung, wie auch humanitäre Hilfe und politischen Druck auf die PDK, damit sie das Embargo aufhebt. Wir hängen nicht der Devise an »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, sondern wollen friedlich mit allen zusammenleben. Der Druck auf die PDK ist wichtig, denn der Genozid ist nicht vorbei und wir wissen nicht, was die PDK noch anstellt, wenn sie nicht unter Druck gesetzt wird. Bei uns ist nicht eine Waffe zur Verteidigung angekommen. Die PDK hat die Waffen aus dem Westen zur Verteidigung der ÊzîdInnen bekommen, aber bis jetzt noch keine einzige davon für sie eingesetzt.

Es gibt Vorwürfe, dass die PKK versuchen würde, die ÊzîdInnen für ihre Zwecke auszunutzen – was sagen Sie dazu?

Die PKK verteidigt wie in Rojava die Menschen im Namen der Menschlichkeit und unterstützt ein friedliches Zusammenleben. Wer behauptet, die PKK würde uns benutzen, lügt aus politischem Eigeninteresse.

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg!