Aktuelle Bewertung | Gründe und Ziele des Krieges der AKP

Die internationale Bedeutung der kurdischen Freiheitsbewegung

Veysi Sarısözen, Journalist, Türkei

Zuerst wurde gegen den Islamischen Staat (IS) in Kobanê ein großer Sieg errungen. Das war zugleich eine Niederlage für die Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), denn diese hatte mit dem IS ein blutiges Bündnis gegen die Revolution in Rojava geschlossen. Als die erbarmungslosen IS-Angriffe gegen Kobanê auf Hochtouren liefen, erklärte der jetzige Staatspräsident (und damalige Ministerpräsident) Tayyip Erdoğan auf einer Kundgebung »Kobanê steht kurz vor dem Fall« und man bereite sich auf den »Sieg« des IS vor.

Entgegen diesen Verlautbarungen Erdoğans kam es zwischen dem 6. und dem 8. Oktober zu einem außergewöhnlichen Volkswiderstand, der begleitet wurde vom heldenhaften Widerstand der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ), der die Menschheit und dann auch die USA in Bewegung versetzte. Durch diesen Widerstand und den darauf folgenden Sieg verdient es Kobanê, als das zweite »Stalingrad« bezeichnet zu werden.

Der Eintritt in die Wahlphase in der Türkei war vom Widerstand und der Befreiung Kobanês bestimmt. Ermutigt von Abdullah Öcalan beschloss die Demokratische Partei der Völker (HDP), die aufgrund der antikurdischen Wahlhürde von zehn Prozent bislang mit unabhängigen Kandidaten hatte antreten müssen, als Partei bei den Parlamentswahlen zu kandidieren.

Nachdem die HDP diesen Beschluss öffentlich gemacht hatte, begannen Erdoğan und die gesamte AKP-Führung mit Hilfe der Medien, die sie kontrollieren, eine vernichtende Kampagne gegen die HDP. Würde diese die Wahlhürde bezwingen, so wäre es für Erdoğan und die AKP unmöglich, die Mehrheit zu gewinnen, die sie benötigt, um mit einer Verfassungsänderung das Präsidialsystem und somit Erdoğans Alleinherrschaft zu installieren. Sogar die Parlamentsmehrheit wäre nicht mehr gesichert.

In der Wahlnacht wurde klar, dass die HDP die Wahlhürde mit 13,1 % erfolgreich genommen hatte. Folglich verpasste die AKP nicht nur die verfassungsändernde Mehrheit, sondern verlor nach dreizehn Jahren auch die absolute Parlamentsmehrheit.

Am 8. Juni nahm die AKP eine Haltung ein, mit der sie das Wahlergebnis ignorierte, um ihre »verlorene Macht« zurückzugewinnen. Ohne den Versuch unternommen zu haben, eine Koalitionsregierung zu bilden, wurden Neuwahlen angekündigt. Daraufhin habe ich in meiner Kolumne geschrieben:

»Die tiefe AKP hat sich unmittelbar nach den Wahlen verplappert und ihr Ziel der Neuwahlen, ohne den Versuch, eine Koalitionsregierung zu bilden, offenbart. Das heißt, die AKP wird, wie der schriftlichen Erklärung aus dem Präsidentenpalast Erdoğans zu entnehmen war, vorerst so tun, als würde sie die Entscheidung des Volkes respektieren, indem sie Koalitionsgespräche führt. Anschließend werden die Gespräche für gescheitert erklärt werden. In der Zwischenzeit wird die AKP die Wirtschaft schrittweise in die Krise treiben und in Kurdistan mit bewaffneten und blutigen Provokationen den Waffenstillstand beenden, um dann zu behaupten, ›ohne AKP-Mehrheit im Parlament‹ drohe dem Land die Instabilität. Auf diese Weise wären die Bedingungen für Neuwahlen geschaffen.

Aber aufgrund der Beunruhigung durch die Niederlage haben sie ihr eigentliches Ziel der Neuwahlen frühzeitig preisgegeben. Daher wussten wir, dass sie mit allen Mitteln über Provokationen, seien sie ökonomisch, politisch, militärisch oder sozial, eine Koalitionsregierung verhindern werden.«

Diese Zeilen schrieb ich nur zwei Tage nach den Wahlen, also am 10. Juni 2015. Mit Bedauern beobachten wir, dass die Entwicklungen diese Vorausschau bestätigt haben. Eine Provokation folgt der anderen. Mit dem Vernichtungsangriff des IS und der tiefen AKP in Pîrsûs (Suruç), bei dem bislang 33 junge Menschen getötet und Hunderte verletzt worden sind, die sich dort aus Solidarität mit Kobanê aufhielten, um nach Kobanê zu reisen und sich am Wiederaufbau zu beteiligen, wurde die Bedingung für den Plan der AKP geschaffen. Am 24. Juli putschte die AKP, die bei den Wahlen die parlamentarische Mehrheit verloren hatte und nicht mehr die Regierung stellt, auf Anweisung Erdoğans gegen den Willen des neugewählten türkischen Parlaments. Erdoğan selbst erklärte den »Friedensprozess« und den seit 2013 anhaltenden Waffenstillstand offiziell für beendet. Daraufhin bombardierten Kampfflugzeuge über 400 Mal Stellungen der PKK. Die militärischen Angriffe dauern noch immer an. Bei den anhaltenden Luftangriffen auf das Qandîl-Gebirge in Südkurdistan/Nordirak verübte die türkische Luftwaffe ein Massaker an der dortigen Zivilbevölkerung. Die türkischen Kampfjets bombardierten in der Nacht zum 1. August ab vier Uhr auch das ausschließlich von Zivilisten bewohnte Dorf Zergelê. Dabei kamen acht Zivilisten ums Leben, fünfzehn weitere Menschen wurden schwer verletzt.

Es ist nicht das erste Mal, dass bei Angriffen der türkischen Luftwaffe auf die Qandîl-Berge Zivilisten getötet wurden. Bereits im August 2011 hatte das türkische Militär bei Luftangriffen eine siebenköpfige Familie getötet.Das zerstörte Dorf Zergelê in Qandil

Um ihre Kriegserklärung zu verschleiern, verbreiteten die listigen AKP-Sprecher lautstark die große Lüge, sie würden parallel auch gegen den IS vorgehen. Auch wenn sich diese Lüge nur einige Tage halten konnte, so war sie wirksam. Zuvor hatte der Druck der US-Amerikaner auf die Türkei zugenommen, die westlichen Kräfte hatten begonnen, die »Beweise« für die Waffenlieferungen der AKP an den IS sowie für die Ölgeschäfte zwischen AKP und IS aus der Schublade zu holen. Als die Qualität dieser Dokumente eine Dimension anzunehmen drohte, mit der die AKP-Führung vor ein internationales Strafgericht hätte gestellt werden können, genehmigte die »abgewählte« AKP-Regierung die Nutzung des Stützpunktes Incirlik für US-Kampfflugzeuge.

Die Nachricht, die AKP-Regierung habe beschlossen, gegen den IS vorzugehen, entsprach nicht der Realität. Am 24. Juni wurden lediglich drei »leere« Gebiete bombardiert und während in der Türkei/Kurdistan annähernd 2 000 HDP-Mitglieder festgenommen wurden, kamen angeblich circa 100 IS-Leute in Gewahrsam, viele von ihnen sind wieder freigelassen worden. Inzwischen ist auch gar nicht mehr die Rede vom Kampf gegen den IS. Kurze Zeit später mussten sowohl US-Präsident Obama als auch andere westliche Staatsführungen die Türkei daran erinnern, dass das eigentliche Ziel nicht die PKK, sondern noch immer der IS sei.

Kein Grund, der von der AKP-Regierung für den Krieg gegen die PKK angeführt wird, ist legitim. Ministerpräsident Davutoğlu konnte in einer TV-Sendung keinen vernünftigen Grund nennen. Er führte die Tötung von zwei Polizisten an. Des Weiteren listete er die Kalaschnikow-Schüsse auf, die nach dem HDP-Wahlsieg von einigen Menschen in die Luft abgegeben worden waren, und das Verbrennen von beim Staudamm- und Straßenbau eingesetzten Militär- und anderen Fahrzeugen. Das heißt, es wurden Belange der öffentlichen Ordnung als Kriegsgründe angegeben.

Jeder mit gesundem Menschenverstand wird erkennen, dass diese Vorfälle kein ausreichender Grund sind, einen Krieg vom Zaun zu brechen, der viel größeren Schaden an Menschenleben und Sachen anrichtet. Ein Staat hat die Möglichkeit, die Verantwortlichen für den Tod der beiden Polizisten durch seine Sicherheits- und Geheimdienstkräfte verfolgen zu lassen und zur Rechenschaft zu ziehen, anstatt einen Krieg zu beginnen. Dieser Regierung war es nicht in den Sinn gekommen, den Krieg zu erklären, als vor längerer Zeit zwei Unteroffiziere hinterrücks erschossen worden waren, auch nicht, als das Assad-Regime ein türkisches Kampfflugzeug abgeschossen und dabei ein Pilot sein Leben verloren hatte.

Aus zwei Gründen ist die Kriegserklärung der AKP-Regierung illegitim. Erstens: Es ist illegitim, dass eine »abgewählte« Regierung, sich über den Willen des neu gewählten Parlaments hinwegsetzend, den Beschluss zu einem Krieg fasst, der die nächsten zehn Jahre der Türkei beeinflussen wird.

Zweitens: Die Argumente für den Kriegsbeschluss sind unzureichend. Sogar die Staaten, die sich gezwungen sehen, die Türkei als einen NATO-Partner zu unterstützen, rufen sie zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit auf.

Vor einigen Tagen machte der stellvertretende Ministerpräsident der »abgewählten« Regierung, Yalçın Akdoğan, ein Geständnis, das alle in Staunen versetzte.

Grund für den Krieg sei die im Wahlkampf an Erdoğan gerichtete Äußerung von Selahattin Demirtaş gewesen: »Wir werden nicht zulassen, dass du Präsident wirst.« Die beiden Gründe der AKP für ihre Kriegserklärung beweisen die Unrechtmäßigkeit.

Die türkische Armee hat in den letzten dreißig Jahren Qandil mehrmals bombardiert. Sie hatte nach der ZAP-Offensive sogar versucht, mit Bodentruppen in den Qandîl einzudringen. Aber die gesamte Kriegszeit hat immer wieder bewiesen, dass diese militärischen Angriffe nichts bewirken. Was also ist der eigentliche Grund für diesen Krieg, mit dem die militärische Kraft der PKK nicht zu zerschlagen ist?

Das erste Motiv für diesen Krieg ist, die Türkei in einer Atmosphäre von Krieg und Chaos zu Neuwahlen zu führen. Die AKP erhofft sich von der nationalistischen Hysterie, die mit jedem im Krieg getöteten Soldaten geschürt wird, mehr Stimmen. Parallel soll die HDP mit Massenfestnahmen und psychologischer Kriegsführung geschwächt und in die kurdischen Gebiete der Türkei zurückgedrängt werden. So erhofft sich die AKP, die HDP erneut unter die Zehnprozenthürde zu drücken. Somit wäre erneut der Weg zur alleinigen Macht bereitet. Diese blutige Verbindung zwischen Wahlen und Krieg zeigt, dass die AKP bis zu den Neuwahlen frühestens November 2015 oder spätestens Mai 2016 versuchen wird, die Kriegsbedingungen aufrechtzuerhalten. Sie versucht, mittels Krieg die Macht zu erpressen. Staatspräsident Erdoğan drohte mit der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten. Diese provokante Aussage gewann mit der Äußerung Prof. Ahmet Atillâ Şentürks, Lehrbeauftragter der Fakultät der Künste und Wissenschaft an der Istanbuler Arel-Universität, eine neue Qualität: »Für jeden gefallenen Soldaten sollte jeweils ein HDP-Parlamentarier getötet werden.«

Zweitens: Die AKP-Regierung versucht, ihren Beschluss, Incirlik für US-Flugzeuge im Kampf gegen den IS zu öffnen, durch den Krieg gegen die PKK zu neutralisieren. Mit den schweren Bombardements soll der Bewegungsraum der PKK-Guerillas im Qandîl eingeschränkt werden. Dies wiederum bedeutet eine strategische Unterstützung für den IS. Allgemein bekannt ist, dass die Luftangriffe der [Anti-IS-]Koalition unter Führung der USA nur mit einer effektiven Bodenoffensive Erfolg haben können. Die einzige Kraft, die ihre Schlagkraft gegen den IS bewiesen hat, sind die militärischen Einheiten der kurdischen Befreiungsbewegung. Diese Kraft zu schwächen bedeutet eine direkte Unterstützung des IS.

Auch diese Ziele der »abgewählten« Regierung sind illegitim, ungerecht und rechtswidrig. Einen Krieg zu beginnen, um zum einen die AKP erneut an die Macht zu bringen und zum anderen die Wirkung der Luftangriffe auf den IS zu schwächen, kann niemand als richtig erachten. Keine Anschuldigung gegen die PKK kann diese Ziele legitimieren.

Strategisches Ziel der AKP ist es, über das Abwürgen der Revolution in Rojava erneut zu einer »entscheidenden Kraft« in der Region zu werden. Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit haben die Türkei weit hinter dieses Ziel zurückfallen lassen. Sie versucht jetzt, neue Pläne zu schmieden, um die hundert Kilometer lange Grenzregion zwischen den Kantonen Afrîn und Kobanê zu kontrollieren. In dieser überwiegend von Kurden und Arabern besiedelten Region ist sie bestrebt, über die bewaffnete turkmenische Minderheit vollendete Tatsachen zu schaffen und eine Vereinigung der beiden Kantone zu verhindern. Das beweist erneut die feindselige Haltung der AKP gegenüber der Revolution in Rojava. Die AKP-Regierung fürchtet sich vor einem Bündnis zwischen den Völkern von Rojava und Latakia. Sie sieht darin eine Bedrohung für sich selbst. Wenn die Kantone Afrîn und Kobanê vereint wären und zwischen den Völkern von Rojava und Latakia ein demokratisches Bündnis zustande käme, so wäre die Grenze der Türkei vor den barbarischen IS- und Al-Qaida-Banden geschützt. Allein diese Tatsache demonstriert, dass die Interessen der AKP im Widerspruch zu den nationalen Interessen und der Grenzsicherheit der Türkei stehen.

Auch die Interessen der europäischen Völker und die Macht- und Hegemoniegier der AKP widersprechen sich.
Nur zu schade, dass die europäischen Konservativen »recht« behalten. Die Türkei ist, wie sie immer wieder betont haben, kein »europäisches« Land. Die Art und Weise, in der Erdoğan sie führt, hat die Türkei beinahe zu einem Land des Nahen Ostens gemacht. Auch wenn der Punkt noch nicht erreicht ist, an dem es kein Zurück mehr gibt, so wird sie sich – wenn Erdoğan und die AKP nicht von internationalen demokratischen Kräften gemeinsam mit den Demokraten der Türkei aufgehalten werden – nicht nur außen- und innenpolitisch, wirtschaftlich, sondern auch in soziologischer Hinsicht von Europa lösen. Die Gesellschaft der Türkei außerhalb Kurdistans wird sich sehr schnell von einem gemäßigten hin zu einer radikalen Islamisierung wandeln. Diese Einschätzung wird auch noch durch die zunehmende Transformation der liberalen FSA in Richtung IS verstärkt, die »Talibanisierung« des »liberalen islamischen Pakistan« und die Tatsache, dass Ägypten nur durch einen »Putsch« einer solchen Situation entgehen konnte. Ein Blick auf die Provinz Semsûr (Adıyaman) reicht aus, um die Gefahrensignale zu erkennen. Zwei vom IS rekrutierte Selbstmordattentäter aus Semsûr haben zuerst in Amed (Diyarbakır) zwei Tage vor den Wahlen, dann in Pîrsûs (Suruç) Ende Juli terroristische Massenmordanschläge verübt. Die Türkei ist nicht mehr nur ein Sprungbrett für ausländische IS-Terroristen, sondern sie hat sich in eine Quelle verwandelt, die IS-Terroristen produziert. Hier seien die Leser an die Kontraguerilla Hizbullah [nicht zu verwechseln mit der schiitischen libanesischen Hisbollah] erinnert, die in den 1990er Jahren tausende Menschen ermordete und ihre Opfer auf brutale Weise gefesselt, regelrecht verschnürt, in »Todeshäusern« ablegte.

Das hat für unsere europäischen »Freunde« folgende Bedeutung:
Die EU-Staaten können in Zukunft mit einer Türkei benachbart sein, die sich in ein IS-Gebilde verwandelt hat. Das wiederum bedeutet, dass der Plan fehlgeschlagen ist, die Türkei aus der EU herauszuhalten, sie aber gleichzeitig als Pufferzone zwischen Europa und dem Kriegsgebiet Mittlerer Osten zu nutzen.

Diese und andere Sachverhalte verdeutlichen, dass die Europäer im Hinblick auf das »türkische Problem« keine Chance mehr haben, diese Tatsachen auszublenden und sich passiv zu verhalten. Wenn die Türkei sich immer mehr in eine Art Pakistan verwandelt, wird sich das in einem unabsehbaren Ausmaß negativ auf die islamischen Gemeinschaften in Europa auswirken. Wenn der islamisch-fundamentalistische Terror in der Türkei erst einmal eine qualitative Stärkung erlebt, wird das schon bald zu einem internen Problem der westlichen Staaten werden. Die Europäer sehen schon jetzt, dass der IS-Virus die friedlichen islamischen Gemeinschaften zu vergiften begonnen hat. Während heute diese IS-infizierten Menschen über die Türkei nach Syrien gehen, um gegen die Kurden in den Dschihad zu ziehen, werden sie morgen mit dem Ziel des Dschihads aus der Türkei nach Europa zurückkehren.

Allein diese Tatsache zeigt, welche Bedeutung die kurdische Befreiungsbewegung für die internationale Gemeinschaft und für die menschliche Zivilisation hat.

Die Rolle, die die kurdische Bewegung nach apoistischer Anschauung in allen Teilen Kurdistans spielt, wurde sichtbar, als der IS Mossul einnahm und Şengal (Sindschar), Kerkuk, Maxmur und Rojava angriff.

Es sind heute die Kinder des kurdischen Volkes, welche die strategischen Interessen der Türkei und Europas gegen die menschenfeindlichen Kräfte des IS schützen.