Guatemala – Ferguson – Rojava

Rojava, der Nullpunkt der Erde

Metin Yeğin, Journalist

In Guatemala wurden nacheinander mehrere Busfahrer umgebracht. Zwei Mafiagruppen waren wegen der Buslinien aneinandergeraten. Es muss um das große Geld gegangen sein! Eine Busfahrkarte hatte fast den Wert eines Vierteldollars. Hinten im Bus und den Busfahrern im Nacken saßen zwei private Sicherheitsleute mit Pumpguns. JedeR in den Bus Steigende wurde eindringlich gemustert. Trotzdem waren so viele Busfahrer getötet worden, dass auf einigen Strecken keine Busse mehr fuhren. Es gab keine Fahrer mehr. In Guatemala herrschte seit vierzehn Jahren Frieden!

Wir lebten in Guatemala-Stadt in einem Slum, einem Stadtteil an einem Bergkamm. Ich erzählte von den Slums Brasiliens; jeder Mensch kann wegen vierzig Dollar umgebracht werden. Das sorgte für große Verwunderung. Sie sagten, dass dies gutes Geld sei. In Guatemala lag der Kurs bei lediglich drei Dollar. Auch wenn die erste Kugel nicht getroffen hat, Schaden wurde auf jeden Fall angerichtet.

Alle reichen Stadtteile, Wohnanlagen und Industriegebiete waren von Mauern, Kameras und privaten Sicherheitsleuten umringt und sogar kleine Geschäfte hatten bewaffnete Wachleute. Einige Slums scheinen es sich von den Wohnanlagen abgeschaut zu haben und hatten an den Zufahrten Barrieren errichtet. Es handelte sich um einfache Kontrollpunkte. Denen, die dort Wache standen, wurde als Lohn Brot oder Mais dagelassen.

Morgens um acht wurde von einem Bier-LKW aus das Bier verteilt. Der hatte zwei bewaffnete Bewacher. Wie ein Geldtransporter. Guatemala hat das Bier wirklich genossen!

Diese Situation, in der die Indigenen und MestizInnen tagtäglich zu leben gezwungen sind, ist nicht nur auf dieses Land beschränkt. In zahlreichen Staaten der postrassistischen Welt1 erleben die »anderen« Minderheiten oder sogar Mehrheiten Ähnliches. Der Mord der Polizei des Weltdemokratieexporteurs USA und die darauf folgenden Reaktionen der Bevölkerung im letzten Monat sind ein bestechendes Beispiel dafür. Dieser Ort Ferguson, wo die Polizei einen unschuldigen, jungen Afroamerikaner getötet hat, ist auch in historischer Hinsicht ein symbolischer Ort für Schwarze und die Demokratie der USA. Die Vorfälle, die zur Annahme des Civil Rights Act führten, eines der wichtigsten Elemente der US-amerikanischen Demokratie, hatten sich hier abgespielt.2 Fünfzig Jahre nach 1964, als drei Aktivisten, darunter zwei Weiße, wegen ihres Kampfes für das Wahlrecht der Schwarzen in Ferguson getötet worden waren, strömten die Menschen erneut auf die Straßen, weil die Jury es nicht für nötig hielt, die Polizei wegen eines Mordes anzuklagen. Dass dies während der Amtszeit des ersten afroamerikanischen Präsidenten, sogar während seiner zweiten Amtsperiode, passierte, ist um so paradoxer.

Es erinnert mich an einen Vergleich, den ChinesInnen für Landsleute verwenden, die sich wie Weiße aufführen: »Banane – außen gelb, innen weiß.«

In Guatemala, den USA und überall auf der Welt ist diese Hegemonie verbreitet. Die »räumliche Dimension der gegenseitigen Überlappung von Rasse, Klasse und Staat«3 hat zusammen mit dem Neoliberalismus die gesamte Welt besetzt. Insbesondere der »Realsozialismus«, die eigentliche Bedeutung ist unerheblich, hat seine symbolische Wirkung »einer anderen Welt« mit dem, ebenfalls symbolischen, Fall der Berliner Mauer verloren.

Der Abgeordnete der ehemaligen Guerillabewegung URNG im guatemaltekischen Parlament, Felix, definierte das als »Fakt«: »Ob Ihr die Fakten anerkennt oder nicht, es wird sich auf Euch auswirken. Ob Ihr nun den Realsozialismus verinnerlicht oder kritisiert, der Zusammenbruch der Mauer ist ein Fakt und Ihr werdet Euch seinen Auswirkungen nicht entziehen können.« Aus diesem Grund hat der Zusammenbruch des »Sozialismus« das »Sozialstaats«-Prinzip des Kapitalismus mit sich genommen, fortgeschafft. Mit anderen Worten, diejenigen, die einen Stein der Berliner Mauer als Souvenir erwarben, haben den »Mauer«-Virus in die Welt getragen! Der allein auf den Straßen der Welt gebliebene Neoliberalismus hat zuerst die nach der ehemaligen Logik des Sozialstaatsprinzips zu »behandelnden/reformierenden« Stadtteile als »kriminelle Gebiete« bezeichnet. Mit der Proklamation dieser Areale als Stätten der »Überwachung/Erziehung« wurde damit begonnen, überall Mauern zu errichten. Die hinter diesen Mauern als »schuldig und zu strafend« Erklärten waren die Schwarzen, ZigeunerInnen, IndianerInnen, AfrikanerInnen, KurdInnen, Hispanics, Moslems und andere. Zusätzlich waren es überall – ob innerhalb oder außerhalb der Mauern – die Frauen, die zu ihrem »eigenen Schutz« eingesperrt wurden.

Der Virus der Berliner Mauer hat sich gegenüber MigrantInnen in vielen Ländern an den Grenzen, in den Städten, Stadtteilen, Straßen und in den Häusern rapide ausgebreitet. Die »räumliche Dimension der gegenseitigen Überlappung von Rasse, Klasse und Staat« hat die gesamte Welt in Form von eng miteinander verflochtenen Fäden »libanonisiert«.

Das Seltsame dabei ist, dass innerhalb dieses Zirkels alle miteinander verbunden waren. Die ErbauerInnen der Mauer, die BewacherInnen, SpäherInnen, die KontrolleurInnen und DiebInnen, EinbrecherInnen, ihre PizzalieferantInnen, DealerInnen, VerfolgerInnen und sogar die Freier, die die Sexarbeiterinnen als »hinter den Mauern lebende, zu bestrafende Kriminelle« betrachten. Weit interessanter ist die Tatsache, dass beispielsweise die Putzfrauen, die zur Reinigung dieser zu schützenden, neoliberalen Schlösser über alle Schlüssel verfügen, ebenfalls in diesen Ghettos leben.
Dieser Zustand hat insbesondere dazu beigetragen, dass der Neoliberalismus konkurrenzlos wurde und die »räumliche Dimension der gegenseitigen Überlappung von Rasse, Klasse und Staat« zu einer Weltordnung wurde. Mit den Extremen Gentrifizierung/Ghettoisierung, Kriminalisierung/Gewalt, Überwachung/Aufstand und ihrer dialektischen Einheit hat sie eine Raum-Welt hervorgebracht. Eben daher ist Rojava der Nullpunkt der Erde. In einer Welt der »räumlichen Dimension der gegenseitigen Überlappung von Rasse, Klasse und Staat« ist es gleichbedeutend mit einer Weltrevolution, in dieser Region unter härtesten Bedingungen zu versuchen, diese räumliche Dimension aufzubrechen.

Beispielsweise ist in der anerkannten Verfassung, dem Gesellschaftsvertrag, festgehalten: »Gegen die Ungleichbehandlung der Religionen, Sprachen, des Glaubens und der Geschlechter; für den Aufbau der Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie in einer gerechten und ökologischen Gesellschaft; für das Erlangen eines pluralistischen, eigenständigen und gemeinsamen Lebens mit allen Teilen einer demokratischen Gesellschaft und ihrem politisch-moralischen Selbstverständnis; für den Respekt vor den Frauenrechten und die Verwurzelung von Kinderrechten; für die Selbstverteidigung. Für die Freiheit und den Respekt vor dem Glauben geben wir als KurdInnen, AraberInnen, Suryoyos (AssyrerInnen, ChaldäerInnen und AramäerInnen), TurkmenInnen und TschetschenInnen diesen Vertrag bekannt.« Dabei handelt es sich um das Bestreben, dort, wo zwischen Volksgruppen eine Kluft besteht, eine andere Welt entstehen zu lassen. Im Gesellschaftsvertrag heißt es auch: »Die Amtssprachen im Kanton Cizîrê sind Kurdisch, Arabisch und Aramäisch. Zudem verfügen alle anderen Gruppen auch über das Recht, ihre eigene Muttersprache zu verwenden und in ihren Sprachen Schulbildung zu genießen.« Oder auch: »Der Kanton Cizîrê ist ein gemeinsamer Kanton der in ihm lebenden KurdInnen, AraberInnen, Suryoyos, ArmenierInnen und TschetschenInnen sowie des muslimischen, christlichen und yezidischen Glaubens. Dies basiert auf den Grundlagen der Geschwisterlichkeit und des gemeinsamen Lebens.« Mit diesen Artikeln soll das Fundament für ein gemeinsames Leben der Gesellschaften gelegt werden.

Ist die Rede vom Mittleren Osten, denkt mensch an die menschenversklavenden Praktiken des IS und gleichzeitig an die Frauen dort, und dazu steht in demselben Gesellschaftsvertrag: »Frauen verfügen über alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Rechte und das Recht auf Leben. Diese Rechte sind zu schützen. (...) Frauen haben das Recht zur Selbstverteidigung und das Recht, jegliche Geschlechterdiskriminierung aufzuheben und sich ihr zu widersetzen.«4Frauen haben das Recht zur Selbstverteidigung und das Recht, jegliche Geschlechterdiskriminierung aufzuheben und sich ihr zu widersetzen ...

Gleichzeitig wurde der Passus angenommen: »Die Regionen der demokratisch-autonomen Verwaltung akzeptieren weder das nationalstaatliche, militaristische und religiöse Staatsverständnis, noch akzeptieren sie die Zentralverwaltung oder Zentralmacht.« Die KurdInnen, Suryoyo, TurkmenInnen, TscherkessInnen, AssyrerInnen, AraberInnen, ArmenierInnen, TschetschenInnen und vor allem die Frauen bauen – wie die ZapatistInnen auf der anderen Seite der Welt, die sagen: »Wir wollen keine Herrschaft, sondern einen Ort zum Tanzen« – etwas auf, wo alle Schulter an Schulter zum Kreistanz zusammenstehen und niemandem erlaubt wird umzustürzen.

In Rojava ereignet sich eine Revolution. Wisst Ihr das?

Fußnoten:
1 Tariq Ali: »›We live in a post-racial society,‹ Obama enthused, referring to his own victory, soon after entering the White House. It sounded hollow at the time, though many wanted to believe it. Nobody does today. Not even Toni Morrison. But the response of tens of thousands of young US citizens to the recent outrages in Ferguson, Cleveland and New York is much more important and interesting than the vapours being emitted in DC.« (http://www.lrb.co.uk/blog/2014/12/11/tariq-ali/we-cant-breathe/)
2 Nach der Ermordung dreier Menschen stimmte der US-Senat dem Civil Rights Act zu.
3 Loic Wacquant: »Marginalité, pénalité et division ethnique dans la ville à l'ère néolibérale«, in: Journée d'étude autour de Loïc Wacquant, suivie d'une conférence.
4 Ich möchte noch einige Artikel aus dem Gesellschaftsvertrag hervorheben:
»Artikel 26: Der Gesellschaftsvertrag garantiert das Recht auf politisches Leben und verbietet die Todesstrafe.«
»Artikel 39: Alle Bodenschätze und natürlichen Ressourcen gehören der gesamten Gesellschaft. Ihre Nutzung, Verarbeitung und Gebrauch wird durch Gesetze geregelt.«
»Artikel 40: In den demokratisch-autonomen Verwaltungen gehört jeglicher Grundbesitz und Boden der Bevölkerung. Nutzung und Aufteilung werden durch Gesetze geregelt.«
»Artikel 47: Die Mitglieder der demokratisch-autonomen Verwaltungen werden prozentual zur Bevölkerungszahl der Städte und Gebiete aufgeteilt. Die Geschlechterquote beträgt 40 %. Zugleich bestehen gemäß Wahlgesetz feste Mindestquoten für die Vertreterinnen und Vertreter der Suryoyos und für Jugendliche.«
(deutsche Übersetzung des Gesellschaftsvertrags: http://civaka-azad.org/wp-content/uploads/2014/03/info7.pdf)