Die Gefahr, die von dem IS ausgeht, ist nicht nur auf die Region des Mittleren Ostens beschränkt

Selbstverteidigung und gemeinsamer Widerstand gegen den IS

Mustafa Delen, Journalist

Vor rund vier Jahren nahmen die Volksaufstände gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption in Tunesien ihren Anfang und breiteten sich in Windeseile über die gesamte arabische Welt aus. Diese Aufstände veränderten die Machtkonstellation in der Region nachhaltig und erreichten ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Zusammenbruch der Regime in Ägypten und Libyen. Die Bewegung der Muslimbruderschaft (İhvan-ı Muslim) übernahm vielerorts rasch die Vorhut der Aufstände und ihr gelang schließlich auch die Machtübernahme in Ägypten. Allerdings nahmen die laizistischen Kräfte, die von einer Vielzahl regionaler und internationaler Mächte unterstützt wurden, die Machtübernahme des gemäßigten Islams, den die Muslimbruderschaft repräsentiert, nicht hin und so kam es, noch bevor die Muslimbruderschaft die neu erlangte Macht richtig auskosten konnte, zum Putsch und zur Restauration des alten Regimes. Der Putsch gegen die Muslimbruderschaft stellte auch für die Ambitionen der türkischen AKP-Regierung, eine Regionalmacht zu werden einen Rückschlag dar, denn sie hatte mit der İhvan-ı-Muslim-Bewegung einen wichtigen politischen Partner verloren.

Unter der Niederlage der Muslimbruderschaft litt außerhalb Ägyptens vor allem die syrische Opposition. Denn der Kern der Freien Syrischen Armee (FSA) setzte sich aus Gruppen zusammen, die Teil der Muslimbruderschaft waren. Nach dem Putsch in Ägypten verloren diese Gruppen immer mehr an Bedeutung. Das dadurch entstandene Vakuum wurde rasch von salafistischen Gruppierungen aufgefüllt, die innerhalb der syrischen Opposition bald eine Übermacht erlangten. Die verheerenden Rückschläge für die politischen Kräfte des gemäßigten Islams waren zugleich für den sog. Islamischen Staat (IS) ein großartiger Nährboden. Auf diesem Wege konnte der IS mit seinen brutalen Methoden schnell ein Imperium des Schreckens gedeihen. Der IS hat mit der Unterstützung der Türkei und der Golfstaaten sein Herrschaftsgebiet über den Zentralirak und über weite Teile Syriens ausgedehnt. In Syrien versuchen die Islamisten durch die Einnahme der Gebiete Rojavas die Türkei zu ihrem sicheren Rückzugsgebiet zu machen, während sie im Irak gerne neben Mossul ihre Kontrolle auch auf Kirkûk, Diyala und Selhadin ausweiten wollen.

Es ist bekannt, dass der IS keine homogene Organisation ist. In den Reihen des Islamischen Staates befinden sich unzählige Kader des ehemaligen Baath-Regimes, Abspaltungen aus Al-Kaida und sunnitischen Stämmen, die sich von der schiitischen Zentralregierung des Iraks diskriminiert fühlen. Auch islamistische Gruppen aus Südkurdistan, wie Ansar al-Islam, haben sich dem IS angeschlossen.
Der IS hat vor allem in der zwischen der Autonomen Region Kurdistan KRG und der Zentralregierung umstrittenen Region des Iraks, deren Zugehörigkeit im Rahmen des Artikels 140 der irakischen Verfassung noch geregelt werden muss, Terror verbreitet. Das Ziel war es, in diesen Gebieten Angst zu verbreiten und für Unsicherheit zu sorgen. Anschließend hat der IS sein Visier in Richtung Syrien gewendet. Dort hat er allerdings nicht das syrische Regime, sondern die Kurden angegriffen. Der Grund hierfür dürfte vor allem darin liegen, dass sich der IS von Anfang an mit denjenigen Mächten verständigt hat, denen die Region Rojava ein Dorn im Auge ist. Von diesen hat er dann auch die notwendige Unterstützung erhalten, um einen Großangriff auf die Region zu starten. Nachdem er aber trotz dieser Unterstützung bei seinem Sturm auf Rojava gescheitert ist, hat er sich erneut dem Irak zugewandt.

Der Mittlere Osten ist ein einziges Kriegsgebiet

Noch bevor die Massaker des IS an der nichtmuslimischen Bevölkerung Mossuls aus den Schlagzeilen der Presse verschwunden waren, haben die Islamisten am 3. August ein furchtbares Massaker an den êzîdischen Kurden von Şengal verübt. Weder die irakische Armee in Mossul noch die südkurdischen Peschmerga-Kräfte in Şengal haben gegen den IS Widerstand geleistet. Ein Massaker noch größeren Ausmaßes an den Êzîden konnte nur durch den Einsatz der Guerillakräfte der PKK verhindert werden, die sofort nach Şengal aufbrachen und dort einen Großteil der Bevölkerung in sicheres Gebiet evakuieren konnten. Die Guerillakräfte bezogen in Südkurdistan nicht nur in Şengal aktiv Stellung gegen den IS, sondern auch in Maxmur, Kirkûk und Celawle (Jalawla).

Gegenwärtig ist der Mittlere Osten ein einziges Kriegsgebiet. Noch ist kaum abzusehen, in welche Richtung sich die Region entwickeln wird. Vom Irak über Syrien bis nach Jemen und Libyen herrscht Krieg. Auch die Frontverläufe in diesem Kriegsgebiet werden immer unübersichtlicher. Wer heute noch Bündnispartner in der Region ist, kann sich morgen auf dem Kriegsfeld gegenüberstehen und umgekehrt.

Natürlich hat das alles nicht mit dem IS begonnen. In der Region herrschte seit Jahren eine Chaossituation. Der IS hat dieses Chaos nur noch weiter vertieft und den Status quo in der Region ordentlich durcheinandergebracht. Vor diesem Hintergrund scheint es außer einer grundlegenden Neuordnung der Region, mit der die verknöcherten Probleme an der Wurzel gepackt werden, keinen anderen Ausweg aus der gegenwärtigen Chaossituation zu geben. Die lediglich palliativen Maßnahmen, die die schlimmsten Wunden der Kriegssituation bedecken sollen, führen nirgendwohin. Das hat die jüngere Geschichte deutlich gemacht. Unter den gegebenen Bedingungen bedarf es also eines radikalen Widerstands für einen anderen Nahen und Mittleren Osten. Ein anderer Weg, Organisationen wie den IS aus der Welt zu schaffen, scheint auf kurze Sicht nicht möglich.

Eine Gefahr weit über die Grenzen des Mittleren Ostens hinaus

Die Gefahr, die von dem IS ausgeht, ist nicht nur auf die Region des Mittleren Ostens beschränkt. Selbst für diejenigen Mächte, die aufgrund ihrer eigenen Interessen in der Region gegenüber dem IS die Augen verschlossen oder ihn gar unterstützt haben, werden die Islamisten immer gefährlicher. Der Terroranschlag auf Charlie Hebdo in Paris war aus dieser Sicht mehr als ein Warnzeichen. Dass gewisse Kreise diesen Anschlag als den europäischen 11. September bezeichnen, verdeutlicht die Wirkung und Bedeutung dieses Terrorakts.

Vor dem Hintergrund dieser Gefahr haben sich äußerst unterschiedliche politische Kräfte im Kampf gegen den IS zusammengefunden. Ein wenig erinnert der Kampf gegen den IS an den Kampf gegen die Nazis im 2.Weltkrieg. Denn auch damals hatten sich politisch einander keineswegs wohlgesonnene Mächte im Kampf gegen Nazi-Deutschland zusammengefunden. So ist es derzeit auch im Kampf gegen den IS.

KobanêAus diesem Grund hat der Widerstand, den die Kurdinnen und Kurden gegen den IS leisten, es auf die politische Tagesordnung der gesamten Welt geschafft. Denn der Erfolg oder Nichterfolg des kurdischen Widerstands gegen den Islamischen Staat wird weitreichende Folgen für die politischen Machtverhältnisse in der gesamten Region mit sich bringen. Dass die Kurdinnen und Kurden zu solch einem wichtigen Akteur in der Region werden konnten, kommt allerdings nicht aus dem Nichts, sondern gründet sich auf die Erfahrungen der kurdischen Freiheitsbewegung.

Die Tatsache, dass der IS wiederum die kurdische Bevölkerung insgesamt ins Visier genommen hat, ist sicherlich auch kein Zufall. Die Mächte, die hinter dem IS stehen, lassen hier ihren Einfluss spielen. Eine herausstechende Rolle spielt dabei die Türkei. Die Herrschaften in Ankara dachten, sie könnten den Islamischen Staat als Gewaltinstrument für ihre eigenen Zwecke in der Region nach Belieben benutzen. Doch als sich herausstellte, dass der IS nicht nur die Kurden und die Êzîden, sondern auch die Şabak, die Kakai, die Christen, Assyrer, die Turkmenen, die Schiiten und eigentlich die gesamte Vielfalt des Mittleren Ostens zum Feind erkoren hat, zog er nicht nur die Wut der Weltmächte, sondern der gesamten Weltöffentlichkeit auf sich.

Der gemeinsame Kampf der südkurdischen Peschmerga und der Guerillaeinheiten gegen den IS, von Kobanê über Şengal bis nach Maxmur und Kirkûk, hat großes Interesse auf sich gezogen. Vor allem die PKK hat in dieser Zeit nicht nur innerhalb der kurdischen Öffentlichkeit große Sympathien auf sich gezogen, sondern auch die Anerkennung verschiedenster humanistischer und demokratischer Kreise weltweit erlangt. Der Widerstand der PKK hat viele Vorurteile gegen sich aus der Welt geschafft und dazu geführt, dass sich verschiedenste Kreise mit der kurdischen Freiheitsbewegung von Neuem beschäftigen und auseinandersetzen.

Eine gemeinsame Verteidigungskraft ist notwendig

Das Ergebnis ist, dass in ganz Syrien und Irak, aber im Besonderen in Rojava und Südkurdistan ein Krieg stattfindet. Dieser Krieg findet zwischen dem IS auf der einen und der irakischen Armee, den Peschmerga, der Guerilla und den Koalitionskräften auf der anderen Seite statt. Doch in den Reihen der letzteren Partei wird der Kampf derzeit ohne eine offizielle Koordination geführt, was einen schnellen Erfolg gegen die Islamisten unwahrscheinlich macht.

Aus dem gemeinsamen Kampf der Guerilla und der Peschmerga-Kräfte in Kobanê hat die kurdische Bevölkerung große Kraft und Hoffnung geschöpft. Auch in Kirkûk findet in kleinerem Umfang ein gemeinsamer Kampf der kurdischen Kräfte gegen den IS statt. Für Şengal und Maxmur gilt das aber leider nicht. Deswegen müssen die kurdischen Organisationen für die Verteidigung Südkurdistans rasch eine Vereinbarung treffen. Denn das Fehlen solch einer Vereinbarung führt dazu, dass die kurdischen Einheiten gegen den IS nicht gemeinsam kämpfen. Die PKK hat aus diesem Grund der südkurdischen Regierung den Vorschlag gemacht, eine gemeinsame Verteidigungskraft für Südkurdistan oder zumindest eine gemeinsame militärische Koordination aufzubauen.

Eine Realität des Widerstands gegen den IS ist auch, dass die Solidarität zwischen den Völkern und Religionsgemeinschaften, die alle vom Islamischen Staat bedroht werden, in dieser Phase gewachsen ist. Die verschiedenen Minderheiten sind sich alle der Notwendigkeit einer eigenen Selbstverteidigung und des gemeinsamen Handelns mit den anderen Gruppen bewusst geworden. Der Aufbau der YBŞ-Einheiten unter den Êzîden oder das Aufstellen einer Milizkraft unter den Kakai sind gelungene Beispiele für die Selbstverteidigung. So wird durch den Widerstand gegen den IS auch das Fundament für das gemeinsame Leben der verschiedenen Volks- und Religionsgruppen der Region errichtet. Und diese Erfahrung könnte den Grundstein für eine Neuordnung und den Aufbau einer alternativen Gesellschaftsordnung im Mittleren Osten legen.