Die HDP wird zu einer Partei, die überall und für alle erreichbar ist

Die HDP überwindet zuerst die 10%-Hürde in den Köpfen und dann ...

Selahattin Demirtaş, Kovorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP)

Der türkische Staat leidet unter einer derart absurden KurdInnenphobie, dass er, sollte im Falle eines drohenden Weltuntergangs ein Exemplar jeder Spezies auf ein Schiff genommen werden, sich bemühen würde, »keine KurdInnen hereinzulassen«.Der Wahlkampf in der Türke hat begonnen | DIHA

Diese traumatisierte Herangehensweise scheint nicht einfach mit einem Strategiewechsel zu bewältigen zu sein. Die KurdInnen wollen unter den NeoosmanInnen nicht nur eine Farbschattierung, eine Volksgruppe unter deren Schirm sein, sondern gleichberechtigt leben und einen eigenen Schirm tragen. In der Völkerkonföderation im Mittleren Osten wird sich um gleichberechtigte Beziehungen bemüht, wohingegen im Neoosmanischen eine herrschende Nation andere unter ihrer Führung vereinnahmen will. Aus diesem Grunde stellen die neoosmanische Herangehensweise der AKP-Regierung und die von der kurdischen Freiheitsbewegung präferierte Konföderation der Völker im Mittleren Osten zwei grundlegend unterschiedliche Linien dar.

Im von furchtbaren Verwüstungen, Widersprüchen und Polarisierung geprägten Mittleren Osten bietet eine allein auf Ethnie, Klasse oder Religion basierende Politik keine Lösung. Eine Politik, die nicht die Dialektik aller Problemfelder erkennt und sich dieser nicht annimmt, hat hier keine Erfolgs- und Zukunftschancen. Die demokratische Moderne, die eine Konföderation der Völker vorsieht, ist hier als Gegengift entstanden, die HDP mit dieser Perspektive zu einer Partei geworden. Glaubenszugehörigkeit, ethnische Herkunft, Klassenzugehörigkeit, Geschlechterfrage, Umwelt, all dies sind Themen der HDP. Die HDP verfolgt eine Politik, die einer Heilsalbe für die zerrütteten Ethnien und Unterdrückten im Mittleren Osten gleichkommt.

Eine kurdistanbezogene Linie ist notwendig; ein Abweichen wird den KurdInnen Verluste zufügen. Ein Aspekt in den Diskussionen um einen unabhängigen Staat bzw. Autonomie fehlt. Ihr könnt einen unabhängigen Staat verteidigen, aber wenn Ihr das tut, ohne zu beschreiben, wie er regiert werden soll, werdet Ihr Munition verpulvern. Ich spreche für einen mit Demokratischer Autonomie gefüllten unabhängigen Staat. Das von Herrn Öcalan und der kurdischen Freiheitsbewegung installierte Projekt der Demokratischen Autonomie stellt keine Alternative zu einem unabhängigen Staat dar; es erklärt vielmehr, wie ein Staat zu sein hat. Öcalan ist nicht gegen die Idee eines unabhängigen Staates, sondern gegen die eines Nationalstaates. Auch die kurdische Freiheitsbewegung ist nicht von der Idee eines unabhängigen Staates abgewichen, sondern hat eine demokratische Offensive gestartet, welche die Idee eines unabhängigen Staates ideologisch noch weiter ausbaut. Sie hat eine noch weiter reichende Forderung für die KurdInnen, keine geringere. Wenn möglich wird die Demokratische Autonomie innerhalb der türkischen Republik verwirklicht; es wird ein Kampf für die Demokratische Autonomie aller Volksgruppen geführt. Sollte sich abzeichnen, dass die Umsetzung nicht möglich ist, wird es kein endloses Warten geben, bis die Türkei die Demokratische Autonomie anerkennt.
Die HDP verbreitert ihren Aktionsradius nicht im Widerspruch zum kurdistanbasierten Gedanken, sondern einer Linie entsprechend, die diesen einbezieht und in sich trägt. Sie organisiert sich nicht nur im Westen der Türkei als Volkspartei, sondern auch in Nordkurdistan. Ihre Vision ist weder Kurdi­stan noch dem Kurdistangedanken fremd. Sie hat es geschafft, Politik und Forderungen in Kurdistan mit den Forderungen der Glaubensgemeinschaften, Klassen und Geschlechter in der Türkei in einem politischen Programm voller Ausgewogenheit zu vereinen. Das Vermögen, sich in der Gesellschaft zu etablieren, ist enorm gewachsen.

Die HDP verteidigt entschlossen und ohne jegliches Zögern das Selbstbestimmungsrecht aller Völker, allen voran des kurdischen. Wenn es seine Bestimmung in der Demokratischen Autonomie sieht – und dies ist der Fall –, dann ist es nicht Aufgabe der HDP, darüber zu diskutieren. Sie wird das bedingungslos unterstützen. Die KurdInnen können einen unabhängigen Staat fordern; das ist ihr gutes Recht. In diesem Fall werden wir uns alle, wird sich die HDP darum vereinen. Während wir dies tun, sprechen wir in Yozgat oder Konya keine andere Sprache. Dass wir die Forderungen des kurdischen Volkes verteidigen, bringen wir HDPlerInnen überall zum Ausdruck. Wir organisieren uns in der Türkei nicht, indem wir so tun, als ob wir nicht die Rechte des kurdischen Volkes verteidigten. Von daher ist jede Stimme, die die HDP erhält, gleichzeitig eine Unterstützung für den Kampf des kurdischen Volkes.

Dass ich in diesem äußerst unfairen Wahlkampf [Präsidentschaftswahl 2014; A. d. Ü.] fast zehn Prozent der Stimmen erhalten habe, ist das beste Beispiel für die Hoffnung und die Aufregung, welche die Menschen ergriffen haben. Vierzig Prozent der WählerInnen sind an den Punkt gekommen zu sagen: »Ich kann sie wählen.« Erstmalig wird sich in der Geschichte der türkischen Republik eine revolutionäre politische Partei, die das System so tiefgreifend kritisiert, in 81 Provinzen organisieren. Sie ist seit Mitte Januar mit ihrer gesamten Organisationsstruktur bereit für die Wahlen.

Die HDP wird zu einer Partei, die überall und für alle erreichbar ist. Daher wird versucht, mich, mit mir meine Partei und die politische Linie, für die ich stehe, zu kriminalisieren. Sie versuchen, an der zunehmenden Sympathie und dem steigenden Interesse zu feilen. Sicherlich stört sie die von mir verteidigte politische Linie und das von mir vertretene Politikverständnis. Denn ich bin kein berühmter Schauspieler oder Ähnliches. Meine Bekanntheit ist Resultat meiner politischen Linie. Ich stehe und falle mit meinen Aussagen, den hinter mir stehenden Menschen sowie der Realität des Kampfes. Es ist unbestritten, dass jeglicher Angriff auf mich gegen meine politische Line und den von mir repräsentierten Kampf gerichtet ist. Es ist offensichtlich, dass sie sich davor fürchten.

Unsere Generation ist in der kurdischen Freiheitsbewegung aufgewachsen. Wenn der Begriff zulässig ist, so sind wir ihre Kinder. Sie hat uns großgezogen und kompetent gemacht. Jetzt haben wir auf verschiedenen Ebenen Führungspositionen eingenommen. Wir werden nichts unternehmen, was dem Charakter, der Moral, der Kultur und den Werten der Bewegung widerspricht. Zwischen uns gibt es keine Konkurrenz und keine Machtspielchen. Es wird viel geschrieben werden und zermürbende Kampagnen werden gegen uns inszeniert werden, je näher die Wahlen rücken. Doch wir und unser Volk sind auf diese psychologische Kriegsführung vorbereitet.

Wir werden in 81 Provinzen insgesamt 550 KandidatInnen aufstellen. Mit den Synergieeffekten, die sich aus deren Profil im Hinblick auf die Vielfalt der Sprachen, Farbtöne und Kulturen ergeben, werden wir auf die Menschen zugehen und die HDP wird die einzige Partei sein, über die gesprochen wird. Wir werden erkennen, dass die Zehnprozenthürde in unseren Köpfen besteht. Wir werden erst dort die Hürde überwinden und dann die Wahlhürde.

Zusammenfassung eines Interviews mit Selahattin Demirtaş, Yeni Özgür Politika, 05.02.2015