Sicherheitspaket, Lösungsprozess und Frauenmassaker

Ohne Realitätssinn keine Fortschritte

Bese Hozat, Kovorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)

In den letzten Wochen wird in der türkischen Politik und Öffentlichkeit heftig über das sogenannte »Sicherheitspaket« der AKP-Regierung diskutiert. Es steht außer Frage, dass die Diskussionen und das Sicherheitspaket in direktem Zusammenhang mit der Lösung der kurdischen Frage und der Demokratisierung der Türkei stehen. Denn das Reformvorhaben der Regierung ist nichts weniger als ein Schlag gegen die Bemühungen der demokratischen Kräfte, der KurdInnen und der AlevitInnen, die Türkei zu demokratisieren.

Unter dem Deckmantel der inneren Sicherheit will die AKP neue Kriegsgesetze erlassen, die ihrem eigenen Autoritätsbestreben dienlich sein sollen und unter Beweis stellen, dass diese Regierung kein Interesse an der Lösung der kurdischen Frage und der Demokratisierung der Türkei hat. Ihr einziges Interesse ist, die Lebensdauer ihres oligarchischen Systems zu verlängern und ihr Macht- und Ausbeutungssystem zu stärken.Die alltägliche Polizeipräsenz in Nordkurdistan/Türkei | DIHA

Auf die Frage eines Journalisten antwortete Anfang dieser Woche Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, dass sowohl das Sicherheitspaket als auch der Lösungsprozess umgesetzt werden würde. Zu diesem Statement müsste man Davutoğlu fragen, wie denn mit einer Regierung, die neue Kriegsgesetze erlassen will, Frieden und Demokratie im Lande geschaffen werden sollen? Wie soll unter solchen Bedingungen noch die kurdische Frage gelöst werden können?

Die Diskussionen über das Sicherheitspaket entbrannten nach den Volksaufständen vom 6. bis 9. Oktober letzten Jahres. Diese Volksaufstände waren Zeugnis der Wut einer kurdischen Bevölkerung, die nicht mehr bereit war, die Unterstützung der AKP für den IS bei dessen Ansturm auf Kobanê zu dulden. Die Bevölkerung in Nordkurdistan hat mit diesem Volksaufstand gemeinsam mit solidarischen Kreisen ihren Platz an der Seite des Widerstands von Kobanê eingenommen und der AKP-Regierung deutlich gemacht, dass sie aufgrund ihrer Unterstützung für den IS mit dem Feuer spielt.

Anstatt diese Warnung der kurdischen und türkischen Gesellschaft zu verstehen und die Beziehungen zum IS zu kappen, anstatt radikale Schritte in Richtung Demokratisierung zu unternehmen, die Lösungsverhandlungen zu beginnen und die Wahlhürde zu senken, hat die türkische Regierung nun ihr Sicherheitspaket auf die Agenda gesetzt. Damit verdeutlicht die AKP, dass sie weiterhin glaubt, mit ihrer Gewalt und Macht die KurdInnen, AlevitInnen, die Frauen und alle demokratischen Kreise kontrollieren und auf Linie bringen zu können.

Im Schatten einer AKP, die Sinnbild der patriarchalen Ideologie ist und in der Person ihres Führers Erdoğan, der sich bei jeder Gelegenheit seiner Männlichkeit rühmt, die Herrschaft des Mannes fetischisiert, werden durch Mord und Gewalt Hunderte und Tausende Frauen wie Özgecan in der Türkei Opfer einer allgegenwärtigen Vergewaltigungskultur. Die sexistische und frauenfeindliche Politik der AKP trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass in der Türkei ein abartiges und gewalttätiges Männlichkeitsbild in den Himmel gehoben wird. Die alltäglichen frauenfeindlichen, kriegs- und gewaltverherrlichenden Äußerungen aus den Reihen der AKP schallen in Form von Frauenmördern und Vergewaltigern zurück in die Gesellschaft.

Das Sicherheitspaket ist Teil eines Kriegskonzepts, das unausweichlich dazu führen wird, dem Lösungsprozess jeglichen Sinn und Inhalt zu nehmen. Eine Regierung, die sich den Kopf über Kriegskonzepte zerbricht, kann weder die kurdische Frage lösen noch die Massaker an den Frauen beenden, geschweige denn dem Land die Demokratie bringen.

Die Geschlechterfrage, die kurdische Frage und die Frage der Demokratie hängen eng miteinander zusammen und bedingen sich gegenseitig. Ein erfolgreicher Lösungsprozess in der kurdischen Frage wird auch die Frage der Freiheiten der Frauen und die Frage der Demokratie positiv beeinflussen und umgekehrt. Das Sicherheitspaket der AKP ist, aus dieser Sicht betrachtet, nicht nur ein direkter Angriff auf den Lösungsprozess, sondern auch auf die Geschlechter- und die Demokratiefrage in der Türkei. Würde das Paket vom Parlament verabschiedet, würde das einen neuen Ausnahmezustand für das Land mit sich bringen und dem herrschenden männlichen Faschismus weiter den Rücken stärken.

Ein anderer Punkt, auf den ich im Zusammenhang mit dem Lösungsprozess eingehen möchte, sind die Ereignisse von Cizîr (Cizre). Wenn die AKP-Regierung von einer Störung der öffentlichen Ordnung spricht, verweist sie immer wieder auf Cizîr. Ich möchte an dieser Stelle nicht in aller Tiefe auf die Ereignisse in dem Ort eingehen. Allerdings möchte ich eines betonen: Aufgrund der Auseinandersetzungen in dem Ort richtete unser Vorsitzender Abdullah Öcalan über den Kovorsitzenden des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft DTK, Hatip Dicle, eine Botschaft an die Bevölkerung und die Jugend von Cizîr, in der er sie zur Zurückhaltung aufruft. Nur wenige Stunden nach der Übermittlung dieser Botschaft hat die türkische Polizei Nihat Kazanhan, der noch ein Kind war, erschossen. Eigentlich ist allein dieses Ereignis ein Kriegsgrund. Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK hat sich allerdings verantwortungsbewusst verhalten, ebenfalls die Bevölkerung zur Zurückhaltung aufgerufen und eine klare Warnung an die türkischen Verantwortlichen ausgesprochen. Im Falle, dass die türkischen Sicherheitskräfte von weiteren Angriffen absehen, wurde die Jugend dazu aufgerufen, sich ebenfalls zurückzuziehen.

Doch trotz des verantwortungsvollen Handelns unserer Seite hat der Staat weder seine Angriffe eingestellt noch die Verhandlungen auf Imralı aufgenommen. Stattdessen hat die Regierung mit ihrer Haltung eigentlich nur unter Beweis gestellt, dass sie allein die öffentliche Ordnung gefährden. Und als ob das alles nicht ausreiche, hat sie eine lächerliche Diskussion über die mögliche Entwaffnung der PKK entfacht. Auf der einen Seite versucht sie mit ihrem Sicherheitspaket, ein neues Kriegskonzept umzusetzen, das unter Beweis stellt, dass die Herren in Ankara unter der Lösung der kurdischen Frage weiterhin Krieg und Vernichtung verstehen. Auf der anderen Seite erwartet dieselbe Regierung, dass die PKK eine Erklärung abgibt, in der sie ankündigt, ihre Waffen niederzulegen. Dass diese Erwartungen jeglichen Realitätssinns entbehren, braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Die PKK leistet schließlich nicht seit vierzig Jahren Widerstand, um (sich) von heute auf morgen aufzugeben.

Wer solches denkt, hat entweder von der PKK überhaupt nichts verstanden oder sprichwörtlich seinen Verstand mit Käse und Brot gefüllt/zu sich genommen. Was soll man sagen – Allah möge ihnen Weisheit geben!