Abdullah ÖcalanAbdullah Öcalan: 65 Jahre alt, davon 15 Jahre auf einer Gefängnisinsel inhaftiert

Ein Leben von über 40 Jahren Kampf und Widerstand

Havin Güneşer, Journalistin und Sprecherin der Internationalen Initiative »Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan«, 1. August 2014

Was bringt Menschen dazu, trotz Unterdrückung, Entbehrungen und Bedrohung ihres Lebens Widerstand zu leisten und zu kämpfen? Es muss das sein, was den Menschen zum Menschen macht: Seine Fantasie. Die Kraft sich vorstellen zu können: Eine andere Welt ist möglich.


Genau damit haben Abdullah Öcalan und seine Freundinnen und Freunde wie Haki Karer, Sakine Cansız, Kemal Pir, Mazlum Doğan und andere Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre begonnen: mit ihrer Vorstellungskraft. Wer konnte sich schon der revolutionären Kraft und den Nachwirkungen v

on 1968 entziehen? Sowohl die Sicht auf die Welt als auch auf den Liberalismus wandelten sich. Öcalan und seine FreundInnen waren ein Nebenprodukt dieser Welle, die ausgelöst wurde von der nationalen Befreiung Vietnams und dem Erstarken der türkischen Linken (besonders durch das Wirken von Mahir Çayan, Deniz Gezmiş und Ibrahim Kaypakkaya). Öcalans frühe Gruppe setzte sich nicht nur aus KurdInnen, sondern aus RevolutionärInnen verschiedener ethnischer Gruppen zusammen. Sie stellten sich vor, dass ein Leben möglich ist, in dem es keinen Raum für Unterdrückung, Ausbeutung von Frauen, Kolonisierung und nationalistischen Chauvinismus gibt. Sie stellten sich vor, dass das kurdische Volk existiert und ein Recht darauf hat, auch in Zukunft zu existieren. Diese Vorstellung mag sich heute banal anhören. Aber damals machten der kulturelle und physische Genozid, das Ausmaß der Selbst-Assimilation und die inneren politischen Strukturen der Kolonisatoren es sehr schwer, über Alternativen nachzudenken.Genau damit haben Abdullah Öcalan und seine Freundinnen und Freunde wie Haki Karer, Sakine Cansız, Kemal Pir, Mazlum Doğan und andere Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre begonnen: mit ihrer Vorstellungskraft. Wer konnte sich schon der revolutionären Kraft und den Nachwirkungen von 1968 entziehen? Sowohl die Sicht auf die Welt als auch auf den Liberalismus wandelten sich. Öcalan und seine FreundInnen waren ein Nebenprodukt dieser Welle, die ausgelöst wurde von der nationalen Befreiung Vietnams und dem Erstarken der türkischen Linken (besonders durch das Wirken von Mahir Çayan, Deniz Gezmiş und Ibrahim Kaypakkaya). Öcalans frühe Gruppe setzte sich nicht nur aus KurdInnen, sondern aus RevolutionärInnen verschiedener ethnischer Gruppen zusammen. Sie stellten sich vor, dass ein Leben möglich ist, in dem es keinen Raum für Unterdrückung, Ausbeutung von Frauen, Kolonisierung und nationalistischen Chauvinismus gibt. Sie stellten sich vor, dass das kurdische Volk existiert und ein Recht darauf hat, auch in Zukunft zu existieren. Diese Vorstellung mag sich heute banal anhören. Aber damals machten der kulturelle und physische Genozid, das Ausmaß der Selbst-Assimilation und die inneren politischen Strukturen der Kolonisatoren es sehr schwer, über Alternativen nachzudenken.

Aber sie wagten es und zahlten dafür einen hohen Preis. Die gesamte kurdische Gesellschaft zahlte einen hohen Preis. Wenn es so leicht wäre, die Freiheit zu erlangen, hätte die Menschheit nicht die letzten 5 000 Jahre für sie gekämpft. Vielleicht haben der Kapitalismus und alle anderen vorangegangenen patriarchalen Systeme so versucht, unsere Fantasie abzustumpfen: Sie sagen, es ist unmöglich. Dieses unfreie Leben ist das einzig mögliche. Und zum Beweis führen sie den Zerfall der Sowjet­union, den Stillstand des Feminismus, das Unvermögen der Alternativbewegungen, alternative Lebensformen umzusetzen, an. Aber stimmt das wirklich?

Alternativbewegungen auf der ganzen Welt haben einfach nicht aufgehört, daran zu glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Öcalan und die kurdische Freiheitsbewegung gehören in diese Kategorie und daher war die Organisation, die hier entstand, auch keine nationale Befreiungsbewegung im klassischen Sinn.

Trotz aller Versuche der Türkei und später der Weltmächte, die Bewegung im Keim zu ersticken, haben es Öcalan und seine FreundInnen geschafft, politisch zu überleben. Es ist vielleicht die einzige Bewegung, die nicht nur alle Hochs und Tiefs des Kapitalismus, sondern auch den Zusammenbruch des Realsozialismus und das Gefühl der Hilflosigkeit bei den Menschen miterlebt hat. Andere nationale Befreiungsbewegungen hatten Erfolg und beherrschten danach die Länder, gegen deren frühere Herrscher sie einst Widerstand geleistet hatten. Die PKK sah, wie diese Leute selbst zu HerrscherInnen wurden. Die PKK, so Öcalan, hat Erfahrungen mit dem Realsozialismus gemacht, während sie noch eine Bewegung war. Natürlich wurde die PKK auch von der starken Frauenbewegung der 1980er und 1990er Jahre beeinflusst, aber auch diese kam zum Stillstand. Vor dem Hintergrund und durch das Erbe der Kämpfe und Errungenschaften gegen Versklavung, Kolonisierung und Faschismus erleben wir heute aber auch ihr Wiedererstarken. Während die meisten Alternativbewegungen entweder in Dogmatismus verfielen und/oder verschwanden, kämpften andere darum, diese Entwicklung zu verstehen. Dies erforderte und erfordert eine umfangreiche Neuanalyse nicht nur des gesamten Systems, sondern auch der Alternativbewegungen und der gemachten Fehler. Und wieder war es die Vorstellungskraft, die Öcalan und seinen FreundInnen half. Sie weigerten sich zu akzeptieren, dass es das gewesen sein sollte und von den Ideen nichts geblieben war.

Nach 1994 befasste sich Öcalan in zunehmendem Maß mit dieser Thematik. Bereits in den 1980er Jahren bewertete er viele Aspekte der realsozialistischen Praxis der Sowjetunion und anderer Staaten recht kritisch. Gegenüber den türkischen linken Gruppen, die nach dem Militärputsch 1980 entstanden waren, war er sehr kritisch eingestellt. Er suchte weiter nach tiefergehenden Antworten und vielleicht halfen dabei die Komplexität der kurdischen Frage und die Fähigkeit der PKK, unabhängig zu handeln, denn sie ließen keinen Raum für verkehrte Antworten und (Selbst-)Betrug: Ein falscher Schritt hätte die Vernichtung durch die eine oder andere Macht bedeutet.

Öcalan ist alles andere als dogmatisch, er ist ein wahrer Dialektiker. Er verstand genau, dass alle Systeme ihre Zeit haben. Sie entstehen nicht, weil sie notwendig oder alternativlos sind. Sie bestehen auf der Grundlage bestimmter Gesetze, erreichen ein Gleichgewicht, verlieren dieses Gleichgewicht und dann bleibt nichts mehr, wie es war. Das genau geschieht zurzeit: Der Kapitalismus steckt in einer strukturellen Krise und die Welt in einer chaotischen Situation. Öcalan hat seit 1990 ausführlich darüber gesprochen und geschrieben, besonders in seinen Gefängnisschriften1, die auf der Gefängnisinsel auf Imralı entstanden. Diese chaotische Situation, so warnt er, wird sich nicht zwangsläufig zu etwas Fortschrittlicherem entwickeln. Öcalan behauptet, es bestehe nicht nur die Chance, die 500-jährige Vorherrschaft des Kapitalismus zu beenden, sondern auch die des gesamten patriarchalen Systems. Öcalan und andere Intellektuelle wie Immanuel Wallerstein sagen vorher, dass dieser Kampf heftig sein und noch mindestens 100 Jahre, wenn nicht länger, andauern wird. Diese Prognose scheint sich angesichts der Geschehnisse auf der Welt und im Mittleren Osten zu bestätigen.

Aus diesem Grund versucht Öcalan in seiner Einzelzelle auf der Gefängnisinsel dafür zu sorgen, dass alle unterdrückten Völker, einschließlich der KurdInnen, in die Lage versetzt werden, ein alternatives politisches System umzusetzen und sich vor dem Blutbad zu schützen, das nach jedem ihrer Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel vorbereitet sein wird.

Man sagt, dass die Anfänge über den Ausgang entscheiden. Die PKK begann als eine multiethnische Organisation. Unter der Anleitung der PKK verwirklichte das kurdische Volk sein Existenzrecht und kämpft nun nach außen und nach innen gegen Sexismus und Patriachat, die beide vollständig macht-, hierarchie- und staatszentrierte Ideologien sind. Die kurdische Freiheitsbewegung verweigert sich einer Einverleibung durch das kapitalistische System. Das hat sie aus den Erfahrungen anderer nationaler Befreiungsbewegungen gelernt. Und dies ist auch der Grund dafür, dass sie einer immensen Gegenpropaganda ausgesetzt ist oder komplett ignoriert wird, wenn sie die Entwicklungen in der Region bewertet.

Nehmen wir das Beispiel von Rojava, die kurdischen Gebiete in Nordsyrien. Zuerst gab es viele Reaktionen der Supermächte gegen die KurdInnen, weil diese nicht in die gleiche Falle liefen wie viele andere in Ägypten, Libyen und anderen Teilen der Welt. Die KurdInnen weigerten sich, an Kriegen teilzunehmen, die den Völkern nur Blutvergießen brachten. Stattdessen entschieden sie sich – geleitet von Öcalan – für den dritten Weg, um sich mit allen Völkern der Region zu vereinigen und um eine Selbstverwaltung zu organisieren, die auf Basisdemokratie, Freiheit der Frau, einer alternativen Ökonomie und Ökologie basiert. Im besten Fall wurden sie deswegen ignoriert und aus allen Diskussionen um Syrien ausgeschlossen. Aber die neugebildeten Kantone bestehen fort und versuchen, Raum für eine Regierungsform der Bevölkerung zu schaffen, die das Gedeihen aller Identitäten sichert. Eine Sphäre der Freiheit.

Dem entgegen steht die Sphäre des Faschismus, vertreten durch ISIS, oder den Islamischen Staat (IS), wie er sich seit dem 29. Juni 2014 nennt. ISIS nimmt die Vielfalt der Identitäten, vor allem die der Glaubensrichtungen und Ethnien in der Region, ins Visier. Aus diesem Grund greift er KurdInnen (auch die sunnitischen), AssyrerInnen, TurkmenInnen, ÊzîdInnen, SchiitInnen und ChristInnen an und versucht so, die Region ethnisch und glaubensmäßig zu säubern und die totale Militarisierung der Gesellschaft voranzutreiben. Der IS vertritt in extremer Weise die Vorherrschaft des Mannes und drängt Frauen in eine noch untergeordnetere gesellschaftliche Rolle zurück. Er setzt sexuelle Gewalt als Kriegsstrategie ein und vertritt ausschließlich ein System der »starken Männer«. Ganz gleich, wie sich ISIS verstellen mag, er verkörpert den reinen Faschismus.

Dagegen ist Abdullah Öcalans Paradigma genau das richtige Antidot, ob wir es aus der Perspektive der Glaubensrichtungen, der Ethnien oder der Freiheit der Frau betrachten. Öcalan hat versucht, den Teufelskreis zu durchbrechen, der darin besteht, dass Menschen zu Feinden werden und aneinander Rache nehmen, sobald sie Gelegenheit dazu haben. Aus genau diesem Grund hat er eine fundierte Analyse von Staat, Macht und Gewalt vorgenommen, in der er aufzeigt, wie die Grundlagen für ein Leben in Unfreiheit geschaffen werden.2

Die Gefängnisinsel Imralı und Abdullah Öcalan

Öcalan ist heute 65 Jahre alt und wird seit 15 Jahren auf der Gefängnisinsel Imralı festgehalten, 10 Jahre davon war er der einzige Gefangene. Die Insel ist militärisches Sperrgebiet und wird von 1000 Soldaten bewacht. Bis 2013 war Abdullah Öcalan extremen Isolationshaftbedingungen unterworfen und durfte niemanden außer seinen AnwältInnen und Geschwistern sehen. Seine einzigen Kontakte zur Außenwelt – seine Geschwister und AnwältInnen – wurden oft monatelang daran gehindert, ihn zu besuchen. Das Komitee zur Verhinderung von Folter (CPT) des Europarats bezeichnete seine Haftbedingungen als »unbestreitbare Isolation«.

Weil er verstanden hatte, was chaotische Situationen erfordern, konzentrierte er sich weiter auf die kurdische Frage und die Demokratisierung der Türkei und des Mittleren Ostens und versuchte so kontinuierlich, Brücken zwischen den Völkern zu bauen. Trotz der extremen Isolationsbedingungen haben seine Weitsicht und seine Fähigkeit Entscheidungen zu treffen, die die Position des kurdischen Volkes und die Freundschaft unter den Völkern stärkten, dazu geführt, dass seine Akzeptanz in der kurdischen Bevölkerung zugenommen hat und sie ihn als ihren Repräsentanten betrachtet. Seine strikten Haftbedingungen haben nicht verhindern können, dass sein Ansehen gewachsen ist. Der Grund hierfür ist sehr einfach: Trotz der großen politischen Veränderungen hat sich seine Führung bewährt. Öcalan und die Freiheitsbewegung haben es geschafft, das kurdische Volk aus einer Situation der Nicht-Existenz mit vielen lebensbedrohlichen Hindernissen herauszuführen und es gleichzeitig ermuntert, nach alternativen Lebensform zu suchen: Dies macht das in ihn gesetzte Vertrauen so unerschütterlich. Die Gefängnisgitter haben ihn nie daran gehindert, die Kolonisierung zu bekämpfen und die Freiheit zu fordern. Er inspiriert bis heute die Freiheitsforderung des kurdischen Volkes. Öcalan ist ein Symbol des kurdischen Volkes gegen Verleugnung und Kolonialismus und die meisten KurdInnen betrachten ihn als Garanten für Frieden und Demokratie.

Seit kurzem ist es politischen Delegationen, sowohl der türkischen Regierung als auch der HDP (Demokratische Partei der Völker), möglich, Abdullah Öcalan zu besuchen. Angehörigenbesuche und besonders AnwältInnenbesuche finden nicht mehr statt. Zwei von Öcalans AnwältInnen wurden zu Beginn der KCK-Operationen verhaftet, 34 weitere nach dem 27. Juli 2011. Vor wenigen Monaten wurden zwar alle AnwältInnen freigelassen, aber seit dem 27. Juli 2011 hat keine/r von ihnen ihren Mandanten gesehen. Daraus lässt sich ersehen, dass die Spielregeln nach wie vor vom Staat diktiert werden und dass sie willkürlich sind. Es mag ein politischer Prozess in Gang gesetzt worden sein, aber es gibt für ihn keine gesetzlichen oder offiziellen Verantwortlichen. Zudem sollte ein so unklarer politischer Prozess den juristischen Rechten Öcalans nicht im Wege stehen, geschweige denn Menschenrechtsorganisationen dazu veranlassen, weiter zu den groben Verletzungen der Grundrechte Öcalans zu schweigen. Die auf Öcalan angewandten Gesetze belegen, dass es sich bei ihm um einen Kriegsgefangenen handelt, und unter diesen Umständen können die Gespräche nicht fortgeführt werden. Sie müssen den Status von Verhandlungen erhalten und aus diesem Grund muss Abdullah Öcalan freigelassen werden. Mandela sagte treffenderweise: »Nur freie Menschen können verhandeln. Ein Gefangener kann keine Verträge abschließen.«

Abdullah Öcalan: 65 Jahre alt, davon 15 Jahre auf einer Gefängnisinsel inhaftiert

Eine weltweite Kampagne: Freiheit für Öcalan

Die Internationale Initiative3 hat seit ihrer Gründung im März 1999, keinen Monat nach Öcalans Entführung, stets an seine Freiheit und an den Frieden in Kurdistan geglaubt. Seitdem hat die Internationale Initiative – dank der weltweiten Unterstützung durch einfache Menschen, Intellektuelle und bekannte Persönlichkeiten – ohne Unterlass daran gearbeitet, im Dienste eines gerechten Friedens nicht nur die Beziehungen zwischen dem kurdischen und dem türkischen Volk, sondern zu allen Völkern in der Region zu verbessern. Die Arbeit war vielgestaltig und es wurden die unterschiedlichsten Mittel eingesetzt.

Als sich die Internationale Initiative im September 2012 zu einer weltweiten Unterschriftenkampagne entschloss, war Abdullah Öcalan bereits seit acht Monaten totalisoliert. Niemand hatte irgendwelche Informationen über ihn und die anderen fünf Gefangenen, die im November 2011 nach Imralı verlegt worden waren. Imralı war jetzt eine Gefängnisinsel, auf der nur Kurden untergebracht waren und auf der keine Gesetze galten: Ein Guantanamo im Herzen Europas. Es gab nicht die leiseste Vermutung, wann diese Totalisolation beendet werden würde. Menschenrechtsorganisationen hatten entweder kein Handlungsmandat, verloren sich in der Bürokratie oder die Situation wurde einfach benutzt, um einen Präzedenzfall für die weitere Einschränkung von Gefangenenrechten zu schaffen. Wer würde sich schließlich für einen »Terroristen« einsetzen? So ist es bis heute geblieben.

Es war nicht schwer zu begreifen, dass dies – ähnlich wie 1999 – eine kritische Zeit war. Obwohl die Todesstrafe nach dem Gesetz nicht mehr anwendbar war, wurde sie in dieser Zeit rhetorisch sehr häufig verwendet. Die Vorbereitungen für die weltweite Unterschriftenkampagne begannen sechs Monate vor ihrem Start. Im Kontext des Weltfriedenstags startete die Kampagne in Brüssel am 6. September 2012 mit eintausend Erstunterschriften. Ihr Ziel war gewaltig: die Isolation, die seit Öcalans Entführung vor 15 Jahren noch nie so umfassend gewesen war, und das Schweigen der internationalen Öffentlichkeit zu durchbrechen. Dies war der Grund für die Forderung nach der Freilassung Öcalans und aller anderen politischen Gefangenen. Jetzt sprachen wir nicht mehr über ein Individuum oder eine Führungspersönlichkeit (obwohl wir nicht vergessen dürfen, dass er vor allem ein Mensch mit Rechten ist), sondern über Öcalan als Faktor, der für die Zukunft des kurdischen Volkes und des Mittleren Ostens größte Bedeutung hat. Zu den ersten tausend UnterzeichnerInnen, die die Freiheit von Öcalan forderten gehörten Gerry Adams, Prof. Antonio Negri, Prof. Immanuel Wallerstein, Prof. Achin Vanaik und andere Intellektuelle, PolitikerInnen aus Südamerika, Europa, Asien, Russland und dem Mittleren Osten sowie Parlamentsabgeordnete und NGOs.

Bevor die Internationale Initiative diese Kampagne begann, beriet sie sich mit der KHRG (The Kurdish Human Rights Group in Südafrika) und wurde von ihr mit Zehntausenden (von Unterschriften) unterstützt. Gleichzeitig unterstützten NGOs, Gewerkschaften, politische Parteien aus dem Baskenland, Zypern, Peru, den Philippinen, Deutschland, Großbritannien und Frankreich die Unterschriftenkampagne. Es ist uns an dieser Stelle wichtig, auf die großen Anstrengungen Fidan Doğans hinzuweisen, die zu der starken Unterstützung der französischen Kommunistischen Partei (PCF) und vieler bekannter NGOs und Persönlichkeiten führten.

Wir sind stolz darauf, dass die Kampagne – auch wenn sie von der Internationalen Initiative gestartet und geleitet wurde – heute zu einer Kampagne aller geworden ist. Viele kurdische Organisationen, internationale Organisationen, Institutionen und Persönlichkeiten aus den Philippen, dem Baskenland, Deutschland, Großbritannien und vielen anderen Ländern haben ihr höchste Priorität eingeräumt und sie so zu einer weltweiten Kampagne gemacht. Wir möchten noch einmal die Arbeit und die Anstrengungen von Menschen in ganz Europa und von FreundInnen des kurdischen Volkes auf der ganzen Welt würdigen und allen, die sich beteiligt haben, zu ihrer Leistung, Kreativität, Beharrlichkeit und Kontinuität gratulieren.

Der reale Einfluss solcher Kampagnen

Bis heute wurden viele Unterschriftenkampagnen, Protestaktionen und Märsche für die Freiheit Öcalans durchgeführt. Sie haben alle dabei geholfen, die Situation von Abdullah Öcalan und des kurdischen Volkes öffentlich zu machen und zu verbessern. Wenn wir auf die 1970er Jahre zurückblicken, stellen wir fest, dass das kurdische Volk damals nicht nur im Iran, Irak, in Syrien und der Türkei, sondern auch in Europa und auf der ganzen Welt unsichtbar war und verleugnet wurde. 2014 jedoch gehören die KurdInnen nicht nur in der Türkei zu den dynamischsten und revolutionärsten Kräften, sondern im gesamten Mittleren Osten und in der Welt. Der Grund hierfür ist einfach: Die KurdInnen revoltieren nicht bloß, sie sind organisiert und haben eine klare Vorstellung von ihrer Alternative.

Allerdings war es nicht leicht, aus einem Öcalan, der von der Todesstrafe, und dem kurdischen Volk, das vom Genozid bedroht war, einen Öcalan und ein Volk zu machen, die die Fähigkeit besitzen, über die Zukunft der Türkei und des Mittleren Ostens zu entscheiden. Gewöhnlich werden wir gefragt, ob solche Unterschriftenkampagnen oder ähnliche Aktionen überhaupt irgendeine Wirkung haben. Das konkreteste Beispiel ist die Haltung der KurdInnen nach der Entführung Öcalans, die sie auf der ganzen Welt zur gleichen Zeit zum Ausdruck gebracht haben. Sie haben damit nicht nur die Vollstreckung der Todesstrafe verhindert, sondern auch den Weg für jeden späteren Dialog geebnet, weil sie zum wiederholten Mal gezeigt haben, dass Öcalan der unumstrittene Führer des kurdischen Volkes ist.
In den 15 Jahren gab es viele Kampagnen unterschiedlicher Organisationen und jede markierte einen neuen Abschnitt. Die »Bewegung freier BürgerInnen« beispielsweise startete 2005 bis 2006 in der Türkei die Unterschriftenkampgane »Öcalan vertritt meinen politischen Willen« und sammelte trotz Festnahmen, Verhaftungen, Repression und trotz der Beschlagnahmung von Listen in der Türkei und Europa 3,5 Millionen Unterschriften. KurdInnen haben als Gruppe offiziell nicht das Recht, Wahlen oder Volksabstimmungen durchzuführen. Deswegen habe solche Kampagnen, die oft mit viel Mühen und Repressalien verbunden sind, eine enorme Bedeutung für die Willensbekundung des kurdischen Volkes.

Und so war die Kampagne von 2005 bis 2006 auch eine Antwort auf das koloniale Beharren der Türkei und der europäischen Staaten, die KurdInnen sollten sich »einen neuen Führer suchen«. Das Ergebnis der Unterschriftenkampagne hat es den KurdInnen ermöglicht, solche Ansinnen weitgehend zu entkräften. Während auf der einen Seite ein rassistisch-kolonialistisches Regime alles versucht, um seine Herrschaft zu legitimieren, organisieren das kurdische Volk und andere Völker, Intellektuelle, verantwortungsvolle PolitikerInnen und fortschrittliche NGOs Aktionen und Proteste, um diese Versuche zunichtezumachen. Trotz schwieriger Bedingungen erklärten die KurdInnen Abdullah Öcalan immer wieder zu ihrem »politischen Vertreter« und forderten gemeinsam mit ihren FreundInnen auf der ganzen Welt seine Freiheit.

Die Kampagne hat sich seit ihrem Beginn von Europa über die ganze Welt verbreitet. Nach der Totalisolation Öcalans in den Jahren 2011 und 2012 haben wir 2013 eine Phase erreicht, in der wieder Gespräche aufgenommen wurden. Seitdem wurde die Kampagne mit einem neuen Ziel fortgeführt, nämlich, die Vorurteile, die gegenüber Abdullah Öcalan und dem Kampf des kurdischen Volkes für seine Existenz und seine Freiheit geschürt wurden, auszuräumen. Wir haben uns auch zum Ziel gesetzt, den Falschinformationen entgegenzutreten und die Gesellschaft aufzuklären. Die KurdInnen und Abdullah Öcalan wurden infolge der offiziellen Kolonialpolitik kriminalisiert und der Öffentlichkeit in falscher Weise präsentiert. Aus diesem Grund war es notwendig, viel Energie auf die Suche nach kreativen Methoden zu verwenden. Es ist an der Zeit, dass unsere Bemühungen (für die Lösung der kurdischen Frage) durch politische Initiativen der europäischen Staaten ergänzt werden. Dies kann mit einer Öffnung der politischen, sozialen, kulturellen Arena für das kurdische Volk erreicht werden.

Wir freuen uns, dass sich vor kurzem – trotz der gegenwärtigen Situation – auch Rojava und die anderen Teile Kurdistans der Kampagne angeschlossen haben.

Die abschließende Zählung ist noch nicht erfolgt, aber die erwartete Marke liegt bei fünf Millionen Unterschriften. Dies ist eine gewaltige Zahl und schließt die einzelnen Mitglieder der unterzeichnenden Gewerkschaften, NGOs und anderer Organisationen nicht mit ein.

Abgesehen davon, dass wir von so vielen Leuten Unterschriften bekommen haben, war es wichtig, dass wir mit ihnen ins Gespräch gekommen sind und ihnen die Situation der KurdInnen und der Öcalans erläutern konnten. Dazu wurden die verschiedensten Materialien der Internationalen Initiative in unterschiedlichen Sprachen vorbereitet. Sie können unter www.freeocalan.org und www.ocalan-books.com abgerufen werden. Die Informationen dieser Kampagne sollen noch viele Jahre genutzt werden.

An der Kampagne haben sich viele inspirierende Menschen beteiligt. Man konnte Leute kurdischer, französischer und anderer Nationalitäten in Straßenbahnen, vor Universitäten oder in Einkaufszentren beim Sammeln von Unterschriften sehen. Einige habe sehr kreative Wege gefunden, um ihre Sammlung attraktiver zu machen, so beispielsweise in Schweden: Den UnterzeichnerInnen wurde eine Zitrone mit der Aufschrift »Terrorist« überreicht. Warum? In der Türkei wurden diejenigen, die mit einer Zitrone erwischt wurden, sofort festgenommen, weil Zitronensaft gegen die brennende Wirkung des Pfeffersprays hilft, das die türkischen Sicherheitskräfte gegen DemonstrantInnen einsetzen. So haben sie genial und einfach einen Zusammenhang zwischen Zitrone Proteste Pfefferspray und der kurdischen Frage hergestellt. Sie haben nicht nur Unterschriften gesammelt, sondern auch zum Nachdenken angeregt, indem sie den Leuten »terroristische« Zitronen als Gäste mit nach Hause geschickt haben.

art for ocalan

Kampagne »Art for Öcalan«

Parallel dazu haben wir die Kampagne »Art for Öcalan« ins Leben gerufen. Sie soll die bislang (künstlerisch) nicht so gut zum Ausdruck gebrachte Beziehung zwischen Abdullah Öcalan, dem kurdischen Volk, der Freiheit und der Freiheit der Frauen darstellen. Sie bezweckt aber auch, eine breitere Öffentlichkeit über die Vergangenheit, Gegenwart und die Forderungen des kurdischen Volkes und Öcalans aufklären. Wir haben bereits viele Werke aus Brasilien, Südafrika, den USA, Südamerika, Italien, Deutschland und von KurdInnen aus allen Teilen Kurdistans erhalten. Mit dieser Kampagne möchten wir verschiedene Kunstsparten ansprechen. Die bisher bei uns eingegangenen Werke haben wir auf Postkarten gedruckt und kleinere Kampagnen wie »20 000 Geburtstagskarten für Öcalan« zum 64. Geburtstag im April 2013 durchgeführt. Auch T-Shirts und Leinwände wurden bedruckt und zum Solidaritätspreis verkauft. Darüber hinaus planen wir in näherer Zukunft Ausstellungen der Werke. Einiges muss dazu noch getan werden. So sind wir auch noch auf der Suche nach einem offiziellen Song für die »Freiheit für Öcalan«-Kampagne.

Schlusswort

Mit der Wiederaufnahme der Gespräche Anfang 2013 und Öcalans Newroz-Botschaft im selben Jahr hat die kurdische Frage offiziell eine neue Wendung genommen. Die Verleugnungspolitik der Türkei und der Mächtigen der Welt wurde in Stücke gerissen. Aber nun hat der schwerste Kampf begonnen, der über das zukünftige Leben der KurdInnen und anderer Völker der Region entscheiden wird: Obwohl für die KurdInnen die Gefahr der Vernichtung fortbesteht, geht es bei dem neuen Abschnitt und dem Kampf um die Umsetzung eines alternativen Systems viel mehr um die Mentalitätsveränderung bei den Individuen, denn alternatives Leben ist kein abstraktes Konzept. Ebenso wie die Möglichkeit besteht, dass der Mittlere Osten zum Friedhof der Kulturen und Überzeugungen wird, gibt es die sogar noch größere Chance, dass die Sphäre der Freiheit ausgeweitet wird. Unser Kampf wird über das Ergebnis entscheiden.

Fantasie scheint also ein wichtiger Teil der Verwirklichung von Träumen zu sein, der andere besteht darin, sie in Worte zu fassen und den Mut aufzubringen, sie umzusetzen. »Freiheit für Öcalan« setzt sich nicht nur für die Freiheit einer Person ein, sondern für die Freiheit des kurdischen Volkes und die Freundschaft unter den Völkern.

Jede einzelne Kampagne war für sich eine starke Antwort auf die sich verändernden Bedingungen in der Türkei, der Region oder der Welt. Auch wenn die aktuelle internationale Unterschriftenkampagne bald enden wird, sollten andere Kampagnen für die Freiheit Abdullah Öcalans fortgesetzt werden, bis er tatsächlich frei ist. Und das ist nur noch eine Frage der Zeit.

Fußnoten:

1) siehe: http://www.ocalan-books.com/

2) http://ocalan-books.com/deutsch/jenseits-von-staat-macht-und-gewalt.html

3) http://www.freeocalan.org/