Muttersprache Kurdisch | Foto: TATORT-Kurdistan-DelegationDie Türkei und der Schulunterricht für Minderheiten

... ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Prof. Dr. Tove Skutnabb-Kangas

Eine frühere Version dieses Artikels wurde im NFSC Newsletter (National Folklore Support Center, Chennai, http://www.indianfolklore.org), Sonderausgabe Nr. 32 vom April 2009, S. 4–6, zur Schulbildung indigener Völker veröffentlicht, herausgegeben von Mahendra Kumar Mishra.

Im türkischen Bildungssystem werden Kinder ethnischer Minderheiten in einer Sprache unterrichtet, die nicht ihre eigene ist. Dies verhindert den Zugang zu Bildung und verletzt damit das Recht auf Bildung. Man kann es auch als Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachten. Was kann die Türkei tun, um nicht an Verbrechen gegen die Menschlichkeit teilzuhaben?

Robert Dunbar, Fachanwalt für Menschenrechte, und ich haben mit der Unterstützung indigener Kollegen einen Fachartikel für das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten der Vereinten Nationen geschrieben (Magga et al., 2005). Er enthält eine soziologische, bildungstechnische und rechtliche Argumentation und wir zeigen auf, dass der Unterricht von Kindern indigener Völker und Stämme sowie ethnischer Minderheiten (einschließlich Migranten) in einer dominanten Sprache in Submersions- und auch vorübergehenden Schnellprogrammen den Zugang zu Bildung behindert. Denn auf diese Weise werden linguistische, pädagogische und psychologische Barrieren aufgebaut und das Menschenrecht auf Bildung verletzt. Dieses Recht ist in zahlreichen internationalen Menschenrechtsdokumenten verbrieft, u. a. in der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (Art.29). Die Konvention wurde von ALLEN UN-Mitgliedsstaaten außer Somalia und den USA ratifiziert.

Bei Schulbildung durch Submersion lernt das indigene oder Minderheitenkind subtraktiv etwas über die dominante Sprache auf Kosten der Entwicklung seiner eigenen Sprache. Oft ersetzt die dominante Sprache die eigene Sprache des Kindes. Schulbildung durch Submersion schränkt oft die Fähigkeiten des Kindes ein und verfestigt die Armut (siehe Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen). Das Submersionsprinzip wird noch immer angewandt, obwohl fundierte Forschungsergebnisse vorliegen, wie man bei Kindern am besten eine Zwei- oder Mehrsprachigkeit auf hohem Niveau erzielen und ihnen eine erfolgreiche schulische Laufbahn ermöglichen kann. Dies wird erreicht durch additive Bildung in einem multilingualen Programm1 auf Grundlage der Muttersprache, in dem die eigene Sprache des Kindes mindestens während der ersten sechs Jahre, vorzugsweise noch länger, das Hauptkommunikationsmedium ist. Andere Sprachen werden als Schulfächer von gut qualifizierten zwei- oder mehrsprachigen Lehrern unterrichtet, die die Muttersprache des Kindes kennen.

In unserem Fachartikel (Dunbar & Skutnabb-Kangas 2008) haben wir gezeigt, dass sich subtraktive Schulbildung in der dominanten Sprache für Minderheitenkinder und indigene Kinder in sozialer, psychischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht schädlich auswirken kann. Diese Form der Bildung kann zu sehr schweren geistig-seelischen Schäden führen: soziale Entwurzelung, kognitive, linguistische und psychische Beeinträchtigungen und teilweise dadurch bedingt wirtschaftliche, soziale und politische Ausgrenzung. Weiterhin können die Kinder oft schwere körperliche Schäden davontragen, z. B. in Internaten und als langfristige Folgen der Marginalisierung, z. B. in Form von Alkoholismus, Selbstmord und Gewalt. In unserem Buch (Skutnabb-Kangas & Dunbar 2010, frei im Internet verfügbar) behandeln wir das Thema detaillierter mit zahlreichen Beispielen und geben einen Überblick über internationales Recht zum Thema Bildung, linguistische Identität und Menschenrechte.

Wenn Staaten wie z. B. die Türkei diese subtraktive Politik im vollen Bewusstsein ihrer desaströsen Auswirkungen fortführen, kann Schuldbildung soziologisch und bildungspolitisch als Genozid bezeichnet werden. Dies lässt sich aus zwei Definitionen der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen von 1948 (»Völkermordkonvention«) ableiten:

Definition laut Artikel II(e) »gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe« und Artikel II(b) »Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe« [Fettdruck hinzugefügt].

In rechtlicher Hinsicht kann diese Art von Schulbildung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet werden. Unsere eigene Schlussfolgerung lautet, dass subtraktive Bildung

… eindeutig gegen eine ganze Reihe von Menschenrechtsstandards verstößt und unseres Erachtens einen kontinuierlichen Verstoß gegen Grundrechte darstellt. Subtraktive Bildung entspricht nicht den zeitgenössischen Standards für den Schutz von Minderheiten. … Unserer Ansicht nach kann das Konzept des »Verbrechens gegen die Menschlichkeit« auch auf diese Form der Bildung angewandt werden. … Wir glauben, dass die zerstörerischen Folgen subtraktiver Bildung mittlerweile klar auf der Hand liegen, und zwar nicht nur für die Sprachen und Kulturen, sondern auch für das Leben von Minderheiten und indigenen Völkern. Das Konzept der »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« liefert eine gute Grundlage dafür, dass subtraktive Bildungspraxis und -politik letztendlich irgendwann gesetzlich stigmatisiert werden.

Subtraktive Bildung über das Medium der dominanten Sprache lässt Kinder ethnischer Minderheiten und indigener Völker oft innerhalb von ein bis drei Generationen Teil der sprachlich und kulturell dominanten Gruppe werden. Dies kann zum Aussterben der Sprachen von Minderheiten und indigenen Völkern und damit zum Verschwinden der globalen sprachlichen Diversität führen.

Als Folge davon kann das Wissen über Biodiversität und ihre Aufrechterhaltung und damit über die Grundlagen menschlichen Lebens auf der Erde aussterben. Sprachliche Diversität und Biodiversität sind korrelativ und bedingen einander. Ein Großteil der Gebiete mit der größten Biodiversität der Welt befindet sich dort, wo indigene Völker und Stämme leben und das Gebiet kontrollieren und/oder nutzen. Der Großteil der sprachlichen Diversität der Welt findet sich in den kleinen Sprachen der indigenen Völker und Stämme. Ein großer Teil des detaillierten Wissens, wie Biodiversität aufrechterhalten werden kann, ist in diesen Sprachen kodifiziert. Lassen wir sie aussterben, so verschwinden auch die Voraussetzungen für Biodiversität auf der Erde. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden die meisten indigenen Sprachen der Welt bis zum Jahr 2100 ausgestorben sein.

Wenn Staaten wie die Türkei sich weigern, indigenen Völkern und Minderheiten bedingungslos das wichtigste Menschenrecht für Sprache und Bildung einzuräumen – das Recht, in einer kostenfreien staatlichen Schule überwiegend in der eigenen Sprache unterrichtet zu werden –, fügen sie den betroffenen Kindern, der ganzen Gesellschaft und unserem Planeten schweren Schaden zu.

Was können die Türkei und andere Staaten tun, um keinen Beitrag zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu leisten?

Unterricht und Bildung für indigene Völker und Minderheiten könnten in einer Weise organisiert werden, die Mehrsprachigkeit auf hohem Niveau sichert. Dies würde zu besseren schulischen Ergebnissen, Erfolgen beim Lernen der dominanten Sprache und einer besseren Identifizierung der betroffenen Personengruppen führen. Und selbst die kurzfristigen Anlaufkosten wären nur wenige Prozent höher (siehe z. B. François Grin zu den Kosten). Langfristig führt ein hauptsächlich in der Muttersprache geführter Unterricht zu erheblichen Einsparungen und das »Analphabetentum« von zig Millionen Kindern sowie die Verschwendung in der heutigen Bildungslandschaft wären größtenteils beseitigt.

Es gibt viele positive Beispiele für Bildungsmodelle in den Sprachen indigener Völker und Minderheiten aus vielen Ländern und mit vielen Völkern und Gruppen. Einige wurden erst jüngst ins Leben gerufen, so dass noch keine aussagekräftigen Ergebnisse vorliegen. Andere bestehen bereits seit vielen Jahren. Beispiele sind Nepal (Hough et al, 2009) und Peru (Perez 2009, Perez & Trapnell 2011). Gemäß den landesweiten Ergebnissen von Bildungsmodellen in Äthiopien (Heugh, Kathleen, Benson, Carol, Berhanu, Bogale & Mekonnen, Alemu Gebre Yohannes (22.01.2007), Final Report, Study on Medium of Instruction in Primary Schools in Ethiopia, Commissioned by the Ministry of Education2) erzielten Kinder, die acht oder sogar zehn Jahre in ihrer Muttersprache in den Fächern Amharisch und Englisch unterrichtet wurden, in allen Fächern (auch Englisch) bessere Ergebnisse als Kinder, die nur sechs oder vier Jahre in ihrer Muttersprache oder von Beginn an auf Englisch unterrichtet wurden (Heugh 2009, Heugh et al. 2007, Skutnabb-Kangas & Heugh, Hrsg., 2011). Auch der Unterricht für Taube ist ein gutes Beispiel: Unterricht in Gebärdensprache funktioniert tatsächlich (Skutnabb-Kangas 2008, Skutnabb-Kangas & Aikio-Puoskari, 2003). Stephen Walter und Carol Benson (2012) sowie Carol Benson und Kimmo Kosonen (Hrsg.) (2012) präsentieren positive Beispiele für mehrsprachige Unterrichtsmodelle auf Grundlage der Muttersprache aus zahlreichen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Siehe auch Skutnabb-Kangas, Tove, Phillipson, Robert, Mohanty, Ajit & Panda, Minati (Hrsg.) (2009), Social Justice through Multilingual Education3 für weitere Beispiele.

In Odisha (früher Orya), einem Bundesstaat in Indien (Mohanty & Panda, 2007, 2009), werden 72 Sprachen gesprochen; fast ein Viertel der Bevölkerung gehört indigenen Völkern und Stämmen an, mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Armut im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, in der weniger als 30 % als arm gelten. Die Alphabetisierungsquote der indigenen Bevölkerung liegt nur knapp über 37 %, während sie im Bundesstaat Odisha über 63 % beträgt.

Über 92 % der Kinder indigener Völker und Stämme sowie ethnischer Minderheiten werden zwischen der ersten und neunten Klasse aus der Schule gedrängt, die meisten von ihnen in den ersten zwei bis drei Jahren. Im März 2014 wurden neue staatsweite Bildungsrichtlinien vom »Chief Minister« von Odisha zur sofortigen Umsetzung angenommen. Odisha ist damit der erste Bundesstaat Indiens mit einer klar ausformulierten Bildungspolitik für Kinder indigener Völker und Stämme sowie ethnischer Minderheiten. Es wurden genaue Pläne ausformuliert, wie die Richtlinien umzusetzen sind. Die Ergebnisse jahrelanger Forschung und Untersuchungen bilden hierfür die Basis und schließen eine kontinuierliche Überwachung und Evaluation der Umsetzung mit ein. Das multilinguale Programm sieht vor, dass die Kinder fünf Jahre lang in ihrer Muttersprache unterrichtet werden (die Amtssprache des Staates als Zweitsprache ab der zweiten Klasse und Englisch als Fremdsprache ab der vierten Klasse). Ab der sechsten Klasse ist die Amtssprache Hauptunterrichtssprache und die Muttersprachen werden als eigene Schulfächer angeboten. In den Vorschulen werden die Muttersprachen gesprochen.

Die Bildungsziele sind:

  • eine faire und gleichberechtigte Chance auf einen guten Schulabschluss;

     

  • hohe Kompetenz in der Muttersprache als Grundlage für das Lernen allgemein, einschließlich qualitatives Erlernen anderer Sprachen sowie Identität und Selbstbewusstsein;

     

  • hohes Niveau an Mehrsprachigkeit;

     

  • eine starke, positive multilinguale und multikulturelle Identität und eine positive Einstellung sich selbst und anderen gegenüber zur Förderung einer positiven Entwicklung und Integration anstelle von Assimilation in die dominante Kultur;

     

  • eine faire Chance auf die Entwicklung von Sensibilität und Kompetenz als Voraussetzung für eine demokratische (Staats-)Bürgerschaft und ein Engagement für eine gerechte Welt für sich selbst und die eigene Gemeinschaft ebenso wie für andere.

Im Land der Samen in Norwegen und Finnland (Aikio-Puoskari, 2009, Aikio-Puoskari & Skutnabb-Kangas 2007) kann an der Hochschule Saami sogar noch auf Universitätsebene in der Muttersprache studiert werden – mit hervorragenden Ergebnissen. In Finnland kann die schwedischsprachige Minderheit (5,4 % der Bevölkerung) das gesamte Bildungsangebot, einschließlich der Universitäten, auf Schwedisch nutzen.

Zwei der schädlichsten Mythen bei der Ausbildung von Kindern indigener Völker und Stämme sowie ethnischer Minderheiten sind:

  1. Setzt man bei diesen Kindern schon früh die dominante Sprache – egal ob eine regional dominante Sprache, die Amtssprache des Landes oder Englisch – als Unterrichtssprache ein und kommuniziert man mit ihnen immer nur in dieser Sprache, so erwerben die Kinder in der Sprache eine gute Kompetenz. Falsch gedacht! Je mehr die Muttersprache als Unterrichtssprache eingesetzt wird, umso bessere Ergebnisse werden erzielt, so die Ergebnisse der weltgrößten Studie mit über 200 000 Kindern in den USA (Thomas & Collier 2002).

     

  2. Gute Englischkenntnisse allein seien ausreichend und garantieren eine gute Arbeitsstelle. (…) Englisch öffnet einige Türen – das ist richtig. Aber ein sicherer Weg zu guten Sprachkenntnissen in Englisch oder einer anderen regional dominanten Sprache beginnt mit einem Unterricht, der hauptsächlich in der Muttersprache abläuft.

»Jedes Kind weltweit hat das Recht auf Unterricht in der eigenen Muttersprache«, so der ehemalige Bildungsminister Irakisch-Kurdistans, Abdul-Aziz Taib, als ich ihn am 15.03.2006 in Kurdistan interviewte. Dieses Recht wird heute in den meisten Ländern, einschließlich der Türkei, verletzt. Die neoliberalen und nationalistischen Ideologien, die die monolinguale Bildung – auch in der Türkei – vertreten, »beschränken nicht nur den Zugang von Minderheitenkindern zu Bildung und sozioökonomischen Ressourcen, sondern tragen auch zu einer Spaltung der Gesellschaft bei, indem sie soziale Ungleichheit fördern (…) Eine Sprachenpolitik, bei der das soziale und sprachliche Kapital von Minderheitengruppen ignoriert wird, vernachlässigt soziale Gerechtigkeit, Demokratisierung und die nationale Entwicklung«, schreiben Phyak und Bui (2014, 102). Die Türkei sollte darüber nachdenken …

Alle hier genannten Quellen finden Sie in der über 400-seitigen Bibliographie auf meiner Website http://www.Tove-Skutnabb-Kangas.org. Dort können Sie auch einige weit längere Artikel zu ähnlichen Themen herunterladen.

Fußnoten:

1) (Multilingual Education – MLE)

2) Abschlussbericht, Studie zum Unterrichtsmedium in Grundschulen Äthiopiens, in Auftrag gegeben vom Bildungsministerium.

3) Soziale Gerechtigkeit durch mehrsprachige Bildung.