»Er sah in der Verteidigung von Kobanê eine sozialistische Pflicht« | Foto: DIHASuphi Nejat Ağırnaslı:

»Er sah in der Verteidigung von Kobanê eine sozialistische Pflicht«

Zeynep Kuray, Firatnews, 20.10.2014

Suphi Nejat Ağırnaslı (Paramaz Kızılbaş), Mitglied der MLKP (Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei in der Türkei), ist am 5. Oktober 2014 in den Reihen der Volksverteidigungseinheiten YPG im Kampf gegen den IS in Kobanê gefallen. Die Nachrichtenagentur Firatnews (ANF) hat mit seinem Vater Hikmet Acun über seine Lebensgeschichte gesprochen, seine Kindheit in Deutschland, der Türkei und seinen Weg nach Kobanê.

Suphi Nejat war fünf Jahre alt, als seine Eltern als politische Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Die Grund- und Mittelstufe hatte er in Düsseldorf abgeschlossen. Hikmet Acun betonte, dass Nejat nicht nur sein Sohn war, sondern gleichzeitig auch ein Genosse und sein Tod eine Botschaft an die Linke der Türkei darstelle: »Als internationalistischer Revolutionär meinte er, müsse man in Kobanê sein. Er sah die Verteidigung von Kobanê als Pflicht für alle Sozialisten.«

Wie haben Sie das Leben in Deutschland erlebt?
Es ist sehr schwer als Flüchtling in einem Land zu leben. Dass es in den 1960er Jahren dort türkische Bewohner gab, war für uns ein Vorteil, aber gleichzeitig auch ein Handikap. Denn die dortige türkische Bevölkerung lebte im Ghetto. Wir sind bewusst nicht dorthin gezogen. Aus diesem Grund hatte Nejat in diesen Jahren keine türkischen Freunde. Seine Freunde waren im Allgemeinen Polen oder Deutsche. Er ist mit ihnen gemeinsam aufgewachsen.

Was für ein Kind war Nejat?
Nejat war sehr aktiv. Er war sehr intelligent. Er hat auf eine andere Art gedacht als andere. Seine Schulzeit war sehr erfolgreich. Ohne für seine Klausuren zu lernen, hatte er immer gute Noten. Ich wollte, dass er Medizin studiert, aber Nejat sagte, dass es auf der Welt andere Probleme gebe, und ging so seinen eigenen Weg.

Wie hat der Prozess der Politisierung begonnen?
So wie wir keinen Einfluss auf seine Politisierung hatten, haben wir auch nichts dagegen getan, um ihn von der Politik fernzuhalten. Aber da in der Familie sowieso eine politische Atmosphäre herrschte, hat er früh Interesse an Politik gefunden. Dieses Interesse betraf zunächst, anstatt der politischen Situation in der Türkei, mehr die allgemeine politische Lage. Später, als er 18, 19 Jahre alt war, hat er begonnen sich mit der politischen Lage der Türkei auseinanderzusetzen. Er begann, Fragen über die Phase des 12. September [Anm. d. Übers.: gemeint ist der Militärputsch vom 12. September 1980] und die revolutionären Bewegungen zu stellen. Zum Beispiel begann er, ernste Fragen zu stellen wie »Wie war die revolutionäre Bewegung der Türkei? Warum ist der 12. September so geschehen? Gab es denn nie revolutionäre Erfahrungen in diesem Land? Wird man immer der Niederlagen gedenken? War der 12. September immer eine Niederlage? Gab es keinen historischen Hintergrund?«. Er hat sich seinen Kopf darüber gemacht, dass er nach der Rückkehr in die Türkei über Erfahrungen von Landbesetzungen, Gewerkschaften, Kooperativen der revolutionären Bewegungen in der Türkei forschte.

War es seine eigene Entscheidung, in die Türkei zurückzukehren?
Ja. Denn Nejat hat innerhalb der deutschen Linken gearbeitet. Er hat eine Zeit in der Deutschen Kommunistischen Partei gearbeitet, doch er konnte das, was er wollte, dort nicht finden. Später hat er in autonomen Gruppen gearbeitet. Mit ihnen hat er eine Zeit lang in Kommunenhäusern gelebt. Doch Nejat hat aus seinen Untersuchungen den Schluss gezogen, dass in Deutschland mit der Liquidierung der RAF die Möglichkeit für Widerstand im wirklichen Sinne aufgehoben worden sei. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass von den Gewerkschaften nichts zu erwarten sei, es keine Organisierungen gebe, die darüber hinausgehen, den Kapitalismus zu erhalten. Er kam sogar zu der Feststellung, dass die Organisierungen nicht radikal-revolutionär sind, sondern den Kapitalismus bereichern. Aus diesen Gründen war er hoffnungslos. Trotz seines überdurchschnittlichen Schulabschlusses und der Möglichkeit, an seiner Wunschuniversität zu studieren, ist er Hals über Kopf in die Türkei zurückgekehrt. Dort hat er an der Boğaziçi-Universität (in Istanbul) begonnen, Soziologie zu studieren.

Warum, denken Sie, hat er den Schlüssel zur Lösung in der Türkei gefunden?
Die Türkei ist problematischer, brenzliger und dynamischer. Nejat war gleichzeitig auch ein sehr guter Theoretiker. Das sage nicht ich, sondern seine Professoren, die seine Diplomarbeit betreuten. Nejat war ein Mensch mit einer anderen Intelligenz. Er war fähig, Fragen aus ganz anderen Blickwinkeln zu stellen. Zweitens war er auch ein Mensch, der das Gedankensystem, an das er glaubt, objektiv zu hinterfragen. Er beherrschte die marxistische Theorie, denn er war ein Junge, der nicht die Übersetzungen zum Marxismus gelesen hatte, sondern deutsche Originale. Ich erinnere mich; er ließ Engels und Marx sprechen wie zwei lebendige Menschen. Während er Engels gelesen hat, sprach und diskutierte er, als ob ihm gegenüber ein lebendiger Mensch saß.

Wie hat er die revolutionären Kreise kennengelernt?
Als er nach Boğaziçi gegangen ist, hat er um sich einen revolutionären Kreis aufgebaut. Mit seinen Freunden hat er in Boğaziçi zu Themen wie den Werften in Tuzla, der Ermordung von Hrant Dink unter dem Namen »Wir hinterfragen die Dunkelheit« sehr wichtige und schöne Veranstaltungen und Arbeiten hervorgebracht. Dann hat er später während seines Masterstudiums entschieden, nach Kandil zu gehen.

Hat er in dieser Phase begonnen, sich mit der kurdischen Frage auseinanderzusetzen?
Sowohl von uns als auch von ihm selbst gab es ein großes Interesse und eine große Sympathie für die kurdische Bewegung. Es ist klassisch bei der Linken in der Türkei, dass wir, statt die kurdische Bewegung zu unterstützen, unsere eigene Bourgeoise unterstützen. Wir haben mit diesem Blickwinkel sehr schnell gebrochen. Nejat hat über uns sehr früh die Kurden kennengelernt. In seiner Politisierungsphase hatte er sie sowieso schon gekannt. Er war ein Mensch, der die Ideen der kurdischen Bewegung gut verstanden hat. Doch Nejat hat nie über das Kurdischsein eine Beziehung zur kurdischen Bewegung aufgebaut. Denn Nejat war Kommunist. Aus diesem Grund hat er sich das von der kurdischen Bewegung repräsentierte gesellschaftliche Projekt angeschaut. Zum Beispiel ist Nejat in einer Phase nach Kandil gegangen, in der er die kurdische Bewegung am radikalsten kritisierte. »Die Kurden haben de facto eine Revolution geschaffen, haben jahrelang gekämpft und haben sich im Prozess immer gewandelt. Aus diesem Grund schaue ich nicht auf die Kurden, sondern auf ihre Aktionen«, sagte er.

Lag dieses Denken seinem Weg nach Kobanê zugrunde?
Nejat ist nach Kobanê gegangen, um sich das von den Kurden geschaffene gesellschaftliche Projekt anzunehmen. Das von den Kurden aufgebaute gesellschaftliche Projekt ist ein Projekt, das auch den Mittleren Osten befreien wird. Dieses Projekt kann auch in die Türkei getragen werden und hier vieles verändern. Der IS greift sowieso die Kurden über die Imperialisten und die Türkei an, um dieses Projekt zu vernichten. Nejat ist gerade wegen diesem Aspekt zur Unterstützung des Widerstands nach Kobanê gegangen. Als internationalistischer Revolutionär meinte er, müsse man in Kobanê sein. Er sah in der Verteidigung von Kobanê die Pflicht aller Sozialisten. Er dachte, dass alle Menschen, welche sich als Revolutionär bezeichnen, sich das von den Kurden realisierte Projekt in Rojava annehmen müssen. Nejat sagte, dass, wenn man sterben müsse, man dort sterben sollte, und mit seinem Tod hat er dies bewiesen. Für ihn pochte das Herz des Internationalismus dort und er sagte, wenn wir die Geschichte erobern, wird dies dort geschehen.

Wussten Sie, dass er nach Kobanê gegangen war?
Nein, keiner wusste das. Weder als er nach Kandil noch als er nach Kobanê gegangen ist, hat er uns irgendetwas gesagt. Als er zum Beispiel nach Kobanê gehen wollte, soll er seinen Freunden gesagt haben, dass er nach Costa Rica gehen würde, um sein Spanisch zu verbessern. Nejat ist in diesem Sinne leise und unauffällig zum Kämpfen gegangen. Er war keine Persönlichkeit, die das Revolutionärsein zur Schau stellte. Auf der einen Seite war er ein Mensch, der sehr realistisch, fröhlich war und die Welt nicht sehr ernst nahm, auf der anderen Seite war er so ernsthaft, als ob er alle Probleme der Welt lösen müsse. Nejat war ein Mensch, der sehr er selbst war. Mit seinen Freunden hat er niemals oberflächliche Beziehungen aufgebaut. Er war nur er selbst. Er ist selbst nach Kobanê gegangen und hat dort in den Reihen der YPG gekämpft. In Nejats Denken gab es auf der Welt Subjektivität und Willen. Er dachte, dass man den Willen auf jeden Fall organisieren müsse. Das Datum seines Schritts nach Kobanê war wie ein Ruf zur Rückkehr. Wenn du dir diesen Moment aneignest, kannst du die ganze Welt verändern. Dem revolutionären Geist liegt das gute Verstehen dieses Moments zu Grunde und die Bereitschaft, diesen Moment einzufangen. Aus diesem Grund hatte Nejat gegenüber den Kurden sehr großen Respekt. Er hat die revolutionäre Intelligenz der Kurden besonders verehrt.

Wann haben Sie die Nachricht von seinem Tod erhalten?
Zuerst kam die Nachricht, dass Paramaz gefallen ist; dann habe ich es erfahren. Seine Mutter wusste es nicht. Seine Mutter ist eine Frau, die viele Tode erlebt hat, ihre Genossen wurden am 12. März erhängt, Deniz und seine Freunde wurden erhängt [Anm. d. Übers.: Deniz Gezmiş]. Sie ist eine Frau, die viel Leid gesehen hat. Aber wir bleiben auf den Beinen, denn wir haben von den Kurden gelernt, dass das Leid politisiert werden muss. Denn die Kurden haben in jedem Haus drei, vier Gefallene. Sie sagen nicht: »Wir sind gestorben, fertig, der türkische Staat hat gewonnen«, sie sehen diese Situation als Folge des Kriegs, des Widerstandes an und begegnen ihm mit Standhaftigkeit. Sie sagen es nicht wie die Linke in der Türkei: »Wir sind gestorben, nur die Hälfte ist geblieben.« Die Kurden wissen woher und wie der Tod kommt, sie haben ein politisches Bewusstsein. Natürlich, es ist mein Sohn und ich habe große Schmerzen, doch es gibt auch den Genossen Nejat, ihm will ich kein Unrecht tun. Es war sein Wunsch, er wusste und ist bewusst gegangen, er hat gekämpft und ist gestorben. Das Einzige, was ich tun kann, ist dahinterzustehen. Wie er in seinem Abschiedsbrief erklärte, ist Nejat weder ein Held noch eine Ausnahme, er ist ein gewöhnlicher Mensch.

Warum hat er den Codenamen Paramaz gewählt?
Als Nejat die armenische Frage kennenlernte, war er 14 Jahre alt. Er hat in dieser Zeit nach armenischen Revolutionären wie Paramaz recherchiert. Es ist kein Zufall, dass er diesen Namen gewählt hat, denn er kannte sich sehr gut mit der armenischen und osmanischen Geschichte aus. Er dachte, dass das Revolutionäre nicht mit Mustafa Suphi, sondern mit Paramaz begann.

Haben Sie seinen Leichnam begraben können?
Das Gefecht dauerte bis in den Morgen, damit sich die YPG-Genossen zurückziehen konnten, sind drei Kämpfer vorn geblieben. Es war eine Art Aufopferungsaktion. Später ist seine Leiche in die Hände des IS gefallen, aber mit der Wiedereinnahme des Hügels [vor Kobanê] durch die Kämpfer der YPG bekommen wir vielleicht in den nächsten Tagen eine Nachricht über seinen Verbleib. Wenn wir eine Nachricht erhalten, sind wir uns noch nicht sicher, ob wir ihn in die Türkei holen. Ich weiß nicht, was seine Mutter darüber denkt, aber meinem Herzen liegt der Wunsch nach einer Beerdigung auf einem Märtyrerfriedhof in Kobanê nahe. Für mich ist das noch wertvoller und für die Bevölkerung von Kobanê ist es eine Quelle der Ehre.

Hätte er das auch so gewollt?
Nein, Nejat wollte sicher kein Grab und er würde es uns übel nehmen, würden wir ein [Märtyrer-]Grab machen. Ich weiß das gut, denn Nejat ist nicht nur mein Sohn, sondern gleichzeitig auch mein Genosse.

Heute dauert in Kobanê ein großer Widerstand an und Nejat sah in der Verteidigung von Kobanê eine Pflicht aller Sozialisten. Finden Sie, dass die Sozialisten in der Türkei dieser Pflicht gerecht werden konnten?
Der Schritt von Nejat dorthin ist keine Besonderheit, auch sein Kampf ist nichts Besonderes. Jeder kann kämpfen. Nicht nur Mutige kämpfen, auch Menschen ohne Mut sind in bestimmten Phasen gezwungen zu kämpfen. Eine Waffe zu benutzen und zu kämpfen, macht einen Menschen nicht mutig, und macht ihn außerdem auch nicht zu einem guten Menschen. Es gibt auch nicht so ein Maß, dass jeder Mensch, der kämpft, gut ist. Zu kämpfen macht schlechte Menschen auch nicht gut. Ich komme hier auf Folgendes: Nejat hat mit seinem Tod der linken Bewegung in der Türkei eine Botschaft gegeben. Er hat ihr einen Spiegel vorgehalten.