Käsekooperative in Derik/Rojava | Foto: TATORT Kurdistan DelegationDie Zivilgesellschaft in Rojava

Der Wille der Bevölkerung steht im Mittelpunkt

Michael Knapp

Im Juli 2011 begann mit der Vertreibung des größten Teils der Truppen des Assad-Regimes aus dem nordostsyrischen Rojava (kurd.: »Westen«) der Aufbau eines neuen, von radikaler Demokratie geprägten Systems, genannt Demokratische Autonomie. Wir hielten uns den ganzen Monat Mai mit einer Delegation der »Kampagne TATORT Kurdistan« in der Region auf, um die Strukturen dieses im Aufbau begriffenen Projekts zu erkunden und von den dort realisierten praktischen Demokratisierungsansätzen zu lernen. Gerade die aktuellen regionalen Entwicklungen zeigen uns erneut die Bedeutung des Projekts Rojava als potentieller Lösungsansatz nicht nur für den Mittleren Osten.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Nationalstaatsbegriff in den Mittleren Osten exportiert und die koloniale Grenzziehung mit Sykes-Picot 1916 und Lausanne 1923 zur Realität. Die auf dem Reißbrett gezogenen Grenzen teilten Gemeinschaften, Familien, Städte. Die monistischen Nationalstaaten führten dazu, dass sich die Menschen auf der einen Seite der Grenze nun als TürkInnen zu verstehen hatten oder der Vernichtung zum Opfer fielen, auf der anderen Seite in Syrien und Irak dem Panarabismus unterworfen wurden. Diese Staatsideologie zog eine Blutspur vom Genozid an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich, den dortigen Massakern an der assyrischen Bevölkerung bis zur blutigen Verfolgung und Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung sowohl unter dem baathistischen Regime als auch in der Türkei nach sich. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wurden zum Spielball internationaler Interessen gemacht und gegeneinander aufgestachelt. Diese Politik hat nun auch zur Stärkung des Islamischen Staates (IS) und seiner genozidalen Politik geführt. Ziel des IS ist es, die Konflikte der Region in sektiererischer Weise zu ethnisieren. Hinter ihm stehen NATO-Staaten wie die Türkei und enge Verbündete des Westens wie Saudi-Arabien und Qatar. Die Stärkung des IS (oder vormals noch ISIS/ISIL) wurde vom Westen mehr als gebilligt, da er mit ähnlichen Gruppen als Teil der Front gegen Assad und auch gegen die Selbstverwaltung in Rojava gesehen wurde.1

Wir müssen uns also die Frage stellen, was die Selbstverwaltung in Rojava anscheinend so bedrohlich macht, dass NATO-Staaten wie die Türkei nicht vor Ausbildung, Bewaffnung und militärischer Unterstützung von Al-Qaida und Kräften wie ISIS, denen Al-Qaida nicht radikal genug ist, zurückschrecken und andere NATO-Staaten dies über Jahre hinweg billigend in Kauf nehmen.

Rojava – eine Alternative zur kapitalistischen Moderne

Dazu sollten wir einen Blick auf das projektierte und umgesetzte System in Rojava werfen. Zunächst einmal hebt es sich von allen anderen Staaten des Mittleren Ostens dadurch ab, dass hier Laizismus2, Radikaldemokratie, Frauenbefreiung und insbesondere die Repräsentation und Beteiligung aller ethnischen und religiösen Gesellschaftsgruppen zum Ziel gesetzt werden. So wird auf jeder Ebene der Verwaltung der Ansatz verfolgt, allen diesen Gruppen Sitze in den Räten zu quotieren und alle Vorstandsposten mindestens doppelt (Mann/Frau), je nach Zusammensetzung der Bevölkerung durchaus auch mehrfach (z. B. KurdInnen, AraberInnen, AssyrerInnen …), zu besetzen und in diesen Gremien dann die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen reflektieren zu können. Die Basis und die (de)zentrale Entscheidungsinstanz dieses Systems bildet die Kommune, ein Zusammenschluss von 20 bis etwa 100 Haushalten. Weitere Instanzen reichen vom Kanton bis zur Regierung von Rojava.3 Die Organisierung des Systems der Demokratischen Autonomie und des Demokratischen Konföderalismus4 steht auf vier Grundpfeilern: Kommunalismus, Repräsentation aller Gesellschaftsbereiche, Repräsentation aller Kulturen und die zivilgesellschaftlichen Organisationen, deren Aufgabe es ist, sich überall, regional, nach dem gesellschaftlichen Bedarf zu organisieren. »Eigentlich ist die zivilgesellschaftliche Organisierung die Basis all dieser Bereiche. Wenn wir hier von zivilgesellschaftlicher Organisierung sprechen, meinen wir organisatorische Einheiten, die sich auf der Basis des gesellschaftlichen Bedarfs bilden. Wir bezeichnen die demokratische Organisierung dieser vier Bereiche, in der Eigenständigkeit in ihrer Willensbildung, als Demokratischen Konföderalismus.«5

Rolle der Zivilgesellschaft im Demokratischen Konföderalismus

Für viele Menschen, auch für Linke, ist es oft schwer, die Begriffe Gesellschaft und Staat auseinanderzuhalten. Deshalb möchte ich hier zunächst Antonio Gramscis6 Definition der Zivilgesellschaft als Basis des bürgerlichen Staates zur Anwendung einführen; sie erscheint mir passend, um deutlich zu machen, dass wir in den repräsentativen Demokratien in Europa und den USA die Konsequenzen einer systematischen Entpolitisierung der Zivilgesellschaft sehen, deren politische Ausdrucksfähigkeit weitgehend auf alle vier Jahre abgehaltene Wahlen reduziert worden ist.7 Diese Entpolitisierung stellt einen Teil der Strategie dar, eine politische Hegemonie der Resignierten und »Politikverdrossenen« zu schaffen und damit ein Aufbrechen der gesellschaftlichen Konflikte präventiv zu verhindern – die Konsequenz des »Regiertwerdens«.

Die kurdische Freiheitsbewegung definiert den Staat als Mittel zur Profitextraktion zugunsten bestimmter Gesellschaftsgruppen oder Klassen, der zu Vereinzelung und Autoritätsfixierung führt.8

In Rojava, einer Region, die Jahrzehnte unter der Diktatur des baathistischen Regimes stand, soll dieser Prozess jetzt umgekehrt werden. Eine politisierte Zivilgesellschaft soll die Notwendigkeit von Staatlichkeit auf ein Minimum reduzieren, wenn nicht sogar diese perspektivisch auflösen.9 Eine Repolitisierung der Gesellschaft über ein Empowerment der BürgerInnen ist in Rojava im Gange. Solche Prozesse entwickeln sich nicht nur aus sich selbst heraus, dafür ist auch ein breites Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisierung notwendig, um an der Lösung der gesellschaftlichen Probleme zu arbeiten. Zivilgesellschaftlichen Organisationen fällt dabei die Aufgabe zu, sowohl Bildungsarbeit zu betreiben als auch organisierendes Element der Gesellschaft zu sein. Das betrifft alle Gesellschaftsbereiche in der Demokratischen Autonomie.

So definiert eines der Vorstandsmitglieder des Zusammenschlusses der zivilgesellschaftlichen Organisationen von Rojava (Saziyên Civaka Sivil, SCS), Fedakar Hesen, die neue Rolle der Zivilgesellschaft in der Demokratischen Autonomie folgendermaßen: »In ganz Rojava und insbesondere in der Region Cizîrê gibt es große oberirdische wie auch unterirdische Reichtümer. Unter dem Staatssystem gehörten alle diese Reichtümer dem Staat. Nichts gehörte der Gesellschaft. Daher brachte dies der Gesellschaft auch keinen Nutzen. Wenn wir einfach das Beispiel des Erdöls nehmen, dann sehen wir, dass das Öl gefördert wurde und woandershin zum Raffinieren gebracht wurde. Nichts von den Gewinnen daraus ging an die Bevölkerung. Das Öl, das aus dem Boden des Volkes geholt wurde, wurde dem Volk teuer verkauft. Wenn jemand ein Haus bauen wollte, dann war die Genehmigung des Staates nötig, und so lange war da nichts zu machen. Man konnte nicht einmal einen Garten anlegen. Sogar um einen Baum zu pflanzen, brauchte es die Genehmigung des Baath-Regimes. Selbstverständlich bedürfen im jetzigen autonomen System auch bestimmte Dinge der Absprache, aber im Gegensatz zum Staat ist hier das Ziel, eine ökologische Gesellschaft aufzubauen. Während der Staat nichts zur Förderung der Gesellschaft getan hat, fördert das autonome System die Gesellschaft.«

Wie wir sehen können, wird hier die Zivilgesellschaft scharf vom vorherigen staatlichen System abgegrenzt. Im Gegensatz zum Interesse des Staates wird der Wille der Bevölkerung in den Mittelpunkt gestellt. So werden Positionen in allen Institutionen der Zivilgesellschaft imperativ mandatiert. Hesen vergleicht dieses System mit dem Baath-System folgendermaßen: »Der Staat wollte, dass eine oben getroffene Entscheidung bis in die Haushalte hinein umgesetzt wird. Ob diese Entscheidung für den betreffenden Haushalt sinnvoll war oder nicht, spielte keine Rolle, sie musste umgesetzt werden. Der Staat wollte eine von ihrer Kultur entfernte Gesellschaft von SklavInnen. Das System der Demokratischen Autonomie ist stattdessen ein System, das der Haltung der Gesellschaft gegenüber Respekt zeigt und auf diese Weise gesellschaftliche Selbstverwaltungseinheiten schaffen möchte. Dies ist auch das Ziel der zivilgesellschaftlichen Organisierung. Früher konnte jeder Beamte irgendeiner staatlichen Institution die Bevölkerung unterdrücken und beleidigen. Niemand konnte etwas dagegen tun, sie hatten nicht das Recht zu fordern, dass diese Person des Amtes enthoben wird. Der Staat vertrat die Haltung: ›Ich habe diese Person hierher geschickt und ich entscheide, wann sie wieder geht.‹ Wenn jemand aus den zivilgesellschaftlichen Organisationen die Arbeit nicht gut macht, kann das Volk, auch wenn das nicht zu Recht geschehen sollte, einen Vorschlag machen und die betreffende Person aus ihrer Position entfernen. Der Wille der Gesellschaft bildet die Basis von allem.«

Wir sollten also auch das klassische Bild von der zivilgesellschaftlichen Organisation als Hilfsorganisation oder Ähnliches erweitern, wenn wir vom Modell Rojava sprechen. Zivilgesellschaftliche Organisierung bedeutet in diesem Kontext auch gewerkschaftliche Organisierung, den Zusammenschluss von Berufsgruppen, kulturellen, ethnischen und religiösen Identitäten, und sie bezieht ihre Legitimität aus den Selbstverwaltungsstrukturen der Bevölkerung. Vielleicht können wir folgenden Vergleich ziehen: Das, was in der BRD Ämter, Behörden u. ä. Institutionen demokratisch kaum legitimiert praktizieren, soll im System der Demokratischen Autonomie von Rojava gesellschaftlicher Kontrolle und der basisdemokratischen Form der Willensbildung unterliegen.

Zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss von Läden und Werkstätten

Zivilgesellschaftliche Organisierung umfasst also alle Bereiche, insbesondere auch die Ökonomie: »Welche Familie wir uns hier auch anschauen, sie betreibt entweder eine Werkstatt oder einen Laden oder ist auf irgendeine Weise am Handel in der Stadt beteiligt. Grundlage für die Einheit dieser Arbeitenden und für Maßnahmen gegen jedwede Rechtsverletzung oder -verstöße ist die zivilgesellschaftliche Organisierung.«10 Die Staatskritik des Demokratischen Konföderalismus und die kommunale Anbindung der Ökonomie sind zentrale Prinzipien dieser Organisierung: »Insbesondere die Staatssysteme haben die Arbeitskraft der Gesellschaft ausgebeutet und die Rechte der Arbeitenden mit Füßen getreten. In den Systemen der Demokratischen Autonomie lösen zivilgesellschaftliche Organisationen solche Probleme mit den Prinzipien moralischer Politik und denen einer ökologischen Gesellschaft.11 Die Einheit der Gesellschaft bildet die Grundlage. Sie [die zivilgesellschaftlichen Organisationen] verbinden die Gesellschaft. Sie sind verantwortlich für die notwendige Einheit, um die alltäglichen gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Natürlich tun sie das im Rahmen des demokratischen, kommunalen Lebens.12 Auf diese Weise organisiert sich die Gesellschaft.«

Aufbau einer Erdnusskooperative in der Nähe von Amûdê im Kanton Cizîrê | Foto: TATORT-Kurdistan-Delegation

Diese Form der ökonomischen Zusammenschlüsse soll dazu führen, dass sich Läden, Kooperativen, Werkstätten vernetzen, dass entsprechende Arbeitsbedingungen ausgehandelt werden und der gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Diese Verantwortung zeigt sich u. a. auch in der Kontrolle der Lebensmittel- oder Heizölpreise, um eine vollständige Versorgung der Bevölkerung, Geflüchtete eingeschlossen, zu gewährleisten. So wurde beispielsweise die Differenz der Heizölpreise in Dirbêsiyê (Al-Darbasiyah) und Tirbespî (Al-Qahtaniyah) um fünf Lira reguliert. Diese ökonomische Selbstorganisierung ist eine der Maßnahmen, die gerade auch im Kontext der Kommunalisierung der Ökonomie dem zerstörerischen Profitmaximierungsstreben kapitalistischer Ökonomie vorbeugen und insbesondere die Rechte der ArbeiterInnen verteidigen sollen: »Unter dem Baath-Regime war es nicht möglich, ArbeiterInnenrechte einzufordern. Dass die Löhne zu niedrig sind, dass Rechte der ArbeiterInnen verletzt werden und Ähnliches, dagegen konnte man nicht einmal den Mund aufmachen, wenn man das tat, dann wurde man selbst zum/r Angeklagten. Diejenigen, die ihre Rechte eingefordert haben, wurden als StaatsfeindInnen angesehen. Sie wurden unter dem Vorwand, den Staat spalten zu wollen, ins Gefängnis geworfen. Aber das System der Demokratischen Autonomie betrachtet die Verletzung der Rechte von ArbeitnehmerInnen als Straftat. Alle haben das Recht, ihr Leben auf der Basis der ökologisch-demokratischen Gesellschaft zu führen.«

Hesen nennt auch einige Beispiele gesellschaftlicher Probleme, die durch die SCS gelöst worden sind, unter anderem führt er einen Konflikt zwischen Taxi- und MinibusfahrerInnen an. Die Minibusse brachten die Fahrgäste bis an die Tür und die Taxis erlitten große Gewinneinbußen. Deshalb entschied man sich für die Einrichtung zentraler Busbahnhöfe in den Stadtzentren, die direkt angefahren werden.

Kulturelle Organisierung

Wie oben schon erwähnt, stellt das dritte Grundprinzip des Demokratischen Konföderalismus die Repräsentation der unterschiedlichen Kulturen und ihre Förderung in den Vordergrund.13 Dabei wird in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie »Çand û Huner« (kurd.: Kultur und Kunst) nicht nur Wert gelegt auf den Erhalt kultureller Traditionen, gesellschaftliche Probleme werden ebenso angesprochen wie auch Lösungswege durch z. B. Theaterstücke aufgezeigt. So wird versucht, eine konföderale Vernetzung der Kultureinrichtungen der verschiedenen ethnischen oder religiösen Gesellschaftsgruppen zu schaffen. Çand û Huner wurde 1988 gegründet. Wir haben sie unter anderem in Heseke (Al-Hasaka) besucht. Wie alle Einrichtungen in Rojava haben sie ihre eigenen bei der Verteidigung der Revolution und der Region Gefallenen. Vor der Revolution waren diese Institutionen im Untergrund organisiert gewesen. Ziel von Çand û Huner in Heseke ist die Bildung der Gesellschaft und der Bevölkerung gerade in der aktuellen Kriegssituation moralische Unterstützung zu leisten. In enger Zusammenarbeit mit den Akademien betreibt sie ebenfalls eigene Bibliotheken. Häufig wurden Institutionen des Regimes in Kulturzenten umgewandelt und große repräsentative Säle sind nun von allen Menschen nutzbar und Stätten von Kultur, Theater und politischem Austausch.

Die Akademie Nuri Dersimi in Rimelan: »Während andere eine militärische Revolution durchführen, schaffen wir eine Revolution des Bewusstseins«

Im Falle der Akademien Nuri Dersimi wird die Rolle von zivilgesellschaftlichen Organisationen als gesellschaftliche Impulsgeberinnen deutlich. Im mondänen ehemaligen Direktorat der staatlichen Ölfördergesellschaft von Rimelan residiert nun die »Volksakademie Nuri Dersimi«, ein deutlicher Ausdruck der Revolution, indem systematisch Stätten der ehemaligen Macht­eliten zu Kulturzentren, Volkshäusern und Akademien umgewandelt worden sind.

Wir hatten die Gelegenheit, einige Zeit mit den Lehrerinnen und Lehrern der Akademie zu verbringen und Gespräche zu führen. Der junge Lehrer Dilgesh, selbst Physiklehrer an einer Schule in der Stadt, erklärte uns, dass es bei den Nuri-Dersimi-Akademien vor allem darum ginge, der Bevölkerung freiheitliche Werte zu vermitteln. Es werden von den Sprachen der Region bis hin zu Philosophie, Geschichte und Naturwissenschaften alle möglichen Angebote gemacht. Auch europäische Philosophie, wie Descartes, Platon, Nietzsche, Marx und Sokrates, steht auf dem Lehrplan. Dilgesh meinte, dass die Gesellschaft nun mit der Revolution auf eine neue moralische und politische Basis gestellt werden soll. Eine zentrale Rolle bei der Bildung nimmt der Apoismus14 mit seinen ökologischen, demokratischen, geschlechterbefreiten Paradigmen ein.

Es soll keine technokratische Bildung erfolgen, sondern eine Form der ganzheitlichen Bildung, die besonders auch in den Naturwissenschaften eine wichtige Rolle spielt. Dilgesh: »Wir wollen jetzt frei und ohne Grenzen denken und alles hinterfragen. Unser Ziel ist es, das begrenzte Schulwissen zu erweitern und die Menschen zu bewussten Subjekten zu erziehen.«
Im Unterricht geht es deswegen immer wieder auch um den Aufbau des Gesellschaftssystems in Rojava, etwa um demokratische Moral, Räte und Frauengeschichte. Dabei spielt der Dialog in der Klasse eine zentrale Rolle und auch die LehrerInnen begreifen sich selbst als SchülerInnen.

Unterricht an der Akademie findet immer in Ausbildungseinheiten von 15–20 Personen statt. Diese bleiben dort 10 bis 25 Tage. Die SchülerInnen kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft und übernachten in der Regel in den Räumen der von einem baumbestandenen Garten gesäumten Akademie. Sowohl der kulturellen als auch der politischen Heterogenität der TeilnehmerInnen wird Bedeutung beigemessen, da es hier um eine ganz grundlegende Wertevermittlung geht. Der Unterricht findet auf Spendenbasis statt. Zur Leitung der Akademie gehören sechs Personen. Alle Gremien, auch die LehrerInnenschaft, sind zu 50 % mit Frauen besetzt. An fast allen Wochentagen findet Unterricht statt. Die LehrerInnen führen alle zwei Tage ein Tekmil [Kritik-/Selbstkritik-Runde] durch, was bedeutet, dass man sich in dem Fall mit den Problemen der Schule, der LehrerInnen, mit Kritik und Selbstkritik auseinandersetzt und bilanziert. So wird auch eine kontinuierliche Entwicklung der LehrerInnen gewährleistet. Die TeilnehmerInnen an den Seminaren sollen dann in Zukunft als MultiplikatorInnen dienen und selbst in ihren eigenen Bereichen Bildungsarbeit machen. Die Nuri-Dersimi-Akademien sind an die Volksräte und damit an die Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft (TEV-DEM)15 in Westkurdistan angeschlossen und somit Teil des Systems der Demokratischen Autonomie.

Das Problem ist natürlich, dass die Menschen hier zunächst ums Überleben kämpfen und daher meist die Bildung an zweiter Stelle kommt. Die LehrerInnen zeigen sich jedoch entschlossen, »die Bevölkerung trotzdem zu organisieren und zu politisieren«. Bildung findet vor allem über die Institutionen der Selbstverwaltung statt. Ganze Kommunen oder einzelne ihrer VertreterInnen nehmen an Bildungseinheiten der Nuri Dersimi teil, die sie dann als MultiplikatorInnen weitergeben.

Verteilung von Land und ökonomische Grundversorgung

Bei einem Besuch der SCS im Mai 2014 erfahren wir, dass sich zu diesem Zeitpunkt in Qamişlo (Al-Qamishli) 32 zivilgesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen haben, alles Dachverbände von TaxifahrerInnen, HändlerInnen, ArbeiterInnen u. a. Auch hier ist das zentrale Moment die Verhinderung von Preisspekulation und Lösungsansätze zu entwickeln gegen das von Türkei und PDK [Demokratische Partei Kurdi­stans; Regierungspartei Südkurdistans] verhängte Embargo. Die Maximalpreise für Lebensmittel werden von den Institutionen der Selbstverwaltung festgelegt und von der SCS beispielsweise in die Praxis umgesetzt. Die Preiskontrolle wird zwar vor allem mit Krieg und Embargo begründet, aber von der SCS Qamişlo hieß es uns gegenüber, diese Kontrolle auch nach dem Krieg fortsetzen zu wollen, um das Ernährungsproblem in der Region in den Griff zu bekommen. »Wir befreien uns, indem wir uns vom Kapitalismus unabhängig machen. Das Embargo kann auch als Chance gesehen werden. Es müssen keine Luxusbedürfnisse befriedigt werden und die Gesellschaft entwickelt sich autonom.«16 Das größte Problem sind die Preise und das Stromnetz. Das Wasserproblem ist mit dem der Stromversorgung verbunden. Das Wasser in Qamişlo ist nicht wirklich trinkbar. An einigen Orten wurden die Ölproduktionsanlagen in die Luft gesprengt, ebenso Transformatoren und Generatoren zerstört.

Zivilgesellschaftliche Organisierung in einer zivilen Gesellschaft

In Rojava ist eine neue Form von Gesellschaft im Aufbau begriffen. Wir haben in diesem Aufsatz vor allem die Bereiche Ökonomie und Zivilgesellschaft herausgegriffen, wir könnten dasselbe mit den anderen Gesellschaftsbereichen tun – Jugend, Frauenfreiheitsbewegung, Gesundheit, Verteidigung, Justiz, Menschenrechte, religiöse Organisationen, kulturelle Bildung, Unterricht u. v. a. m.17 Das Prinzip ist immer dasselbe, entscheidend sind die in der kleinsten Einheit der Kommune organisierten Menschen, die Kommissionen bilden und mit den entsprechenden ebenfalls demokratisch legitimierten Organisationen wie Heyva Sor (Roter Halbmond) im Gesundheitsbereich, Akademiya Nuri Dersimi bei der Bildung allgemein, Yekîtiya Star (Frauenbewegung) und vielen weiteren zusammenarbeiten. Wie schon in der Einleitung beschrieben soll es keine staatliche, sondern eine »zivile«, also von der »civitas«, den BürgerInnen, gestaltete Gesellschaft sein. Daher können wir den klassischen NGO-Begriff eigentlich nicht einfach auf Rojava anwenden, da von der Kommune bis zur zivilgesellschaftlichen Organisation alles zivil ist. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen, wenn wir weiterhin diesen Begriff verwenden wollen, stehen in einem Austauschverhältnis mit den Institutionen der Selbstverwaltung. Ihre Aufgabe ist es auch, ihr Wissen einzubringen, um Fehler bei der Selbstorganisierung zu kritisieren und damit die gesellschaftliche Entwicklung voranzubringen. Sie stellen eine Ergänzung zu den Institutionen der Selbstverwaltung dar. Insofern sind sie nicht nur vom konföderalen System unabhängige Gruppen, sondern bringen sich mit ihren stimmberechtigten VertreterInnen auf allen Ebenen, bis hin zur Regierung von Rojava, ein.

Probleme der Organisierung

Hesen erklärt hierzu: »Das System der Demokratischen Autonomie ist eines, das sich gerade im Aufbau befindet. An diesem Punkt steht ebenfalls das System der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Deshalb können beim Aufbau dieses Systems manche Fehler und Probleme auftreten. Wir sind noch nicht so weit, dass überall solche Organisationen gebildet worden sind. Aber die Arbeit ist erfreulich, also obwohl dieses System neu ist, wird es von den ArbeiterInnen auf freiwilliger Basis umgesetzt. Insbesondere unter dem Baath-Regime konnte niemand für irgendwelche Rechte eintreten. Daher kommen die ArbeiterInnen und wenn sie etwas thematisieren und sehen, dass ihre Rechte geschützt werden, dann beginnen sie, sich noch intensiver zu beteiligen.«

Probleme bei der Organisierung liegen in verschiedenen Bereichen, einerseits bei der Umstellung von einer komplett vom Regime bevormundeten Bevölkerung bis hin zum gesellschaftspolitischen Engagement und der Beteiligung auf allen Ebenen. Wir konnten aber auf unserer Delegationsreise eine große Begeisterung für den Aufbau dieses neuen Systems beobachten und die Bereitschaft aller, Mängel auch durch die Prinzipien von Kritik und Selbstkritik und imperativer Mandatierung zu überwinden. Das Problem steckt daher häufig auch im Know-how – also wie wird Stadtplanung, Energieversorgung und sonstige Arbeit in Selbstverwaltung praktiziert, da die wohlhabende Bourgeoisie die Region verlassen hat, was zu einem Mangel an ausgebildeten Kräften führt. So musste beispielsweise das Raffinieren von Erdöl in einem langfristigen Lernprozess herausgefunden werden, was dazu führte, dass es den ganzen Winter 2011/12 über keine Heizmittel gab. Solche Probleme existieren ebenfalls im Gesundheits- und in anderen Bereichen und sind schnell nur mit der Stärke internationaler Solidarität zu lösen.

Fußnoten:

1) Vgl. Anja Flach: Schwarze Fahne – der Kampf gegen ISIS, Kurdistan Report Nr. 174, S. 26.

2) Die Türkei konnte nie als säkularer Staat bezeichnet werden. Jede nicht sunnitisch-islamische Glaubensrichtung oder Weltanschauung wird hier systematisch diskriminiert. Die Ausübung des sunnitischen Islam wird von der Religionsbehörde Diyanet kontrolliert, damit könnte er durchaus als Staatsreligion der Türkei gelten.

3) Mehr Informationen zur Kommune und dem Rätesystem: »Die Kommune als Zentrum der Demokratischen Autonomie«, 2014, http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/erklaerungen/2014/05/25.htm

4) Zum Verhältnis Demokratischer Konföderalismus, Demokratische Autonomie und Demokratische Republik vgl. Joost Jongerden u. Ahmet Hamdi Akkaya: Born from the Left: the Making of the PKK, in: Marlies Casier u. Joost Jongerden (Hg.): Nationalisms and Politics in Turkey: Political Islam, Kemalism and the Kurdish Issue, Routledge, London 2011.

5) Yeni Özgür Politika: Dizi Araştırma Servisi, 06.11.2010.

6) Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Band 1 bis 9, Hamburg (Argument) 1991–1999; vor allem Band 4, hier wird Zivilgesellschaft als Basis des bürgerlichen Staates definiert.

7) Das zeigt sich unter anderem an der niedrigen Wahlbeteiligung und dem Phänomen der sogenannten Politikverdrossenheit.

8) Öcalan, 2010, »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt«, S. 263.

9) Öcalan, 2012, »Der Demokratische Konföderalismus«, S. 32 f.

10) Nergis Botan: Rojava Devriminde sivil toplum nasıl çalışıyor?, ANF 21.08.2014.

11) Vgl. Biehl, Janet, 2012, Vom Marxismus zu Kommunalismus und Konföderalismus: Bookchin und Öcalan, http://civaka-azad.org/vom-marxismus-zu-kommunalismus-und-konfoederalismus-bookchin-und-oecalan/ (22.10.14).

12) Hierbei wird ganz deutlich Bezug genommen auf die Entscheidungsinstanz auf lokaler Ebene, die Kommune, den Zusammenschluss von 20–100 Haushalten.

13) http://yeniozgurpolitika.org/arsiv/yazdir.php?hid=66247

14) Ideen- und Gedankengebäude Abdullah Öcalans.

15) Das in allen Gebieten Westkurdistans organisierte Exekutivorgan des Volksrates Westkurdistan (MGRK), sozusagen dessen Regierung.

16) SCS-Vertreter im Mai 2014 in Qamişlo.

17) … und werden das auch in unserem Ende des Jahres erscheinenden Buch über die Revolution in Rojava tun.