Asya Abdullah, Kovorsitzende der PYD | Foto: DIHAEs gibt tausende Freiwillige, die nach Kobanê gehen wollen ...

Der Kampf wird nicht so schnell zu Ende sein

Interview mit Asya Abdullah in Kobanê

Asya Abdullah, Kovorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), hält sich seit den Angriffen des IS auf Kobanê in der Stadt auf. Der Kurdistan Report sprach mit ihr über die Situation.

Können Sie für unsere Leserinnen und Leser die Geschehnisse der letzten Wochen in Kobanê kurz Revue passieren lassen?

Am 15. September begann die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates (IS) eine militärische Großoffensive gegen den Kanton Kobanê (Ain al-Arab). Kobanê grenzt im Norden an die Türkei. Die umliegenden Territorien stehen sämtlich unter IS-Kontrolle. Mit Panzern und anderer schwerer Artillerie, die von der irakischen und der syrischen Armee erobert worden waren, wurden zunächst die Dörfer im Umland angegriffen. Die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG) leisten seit jeher unermüdlichen und heldenhaften Widerstand. Vor dem bestialischen und menschenverachtenden Vorgehen der IS-TerroristInnen wurde die Zivilbevölkerung aus den angrenzenden Dörfern evakuiert und zunächst in das Stadtzentrum gebracht. Keines der etwa 400 Dörfer wurde kampflos verlassen, die tapferen Kämpferinnen und Kämpfer der YPG und YPJ sahen sich jedoch aus taktischen Gründen und angesichts der schweren Waffen des Feindes zum Rückzug in die Stadt gezwungen, um dort effektiver Widerstand gegen die BarbarInnen zu leisten. Hatte der IS zwischenzeitlich in die Stadt eindringen können, wurden die TerroristInnen aus fast allen Teilen der Stadt zurückgedrängt. Derzeit konzentrieren sie sich vor allem auf die Ostfront. Sie sind bestrebt, von dort aus einen strategisch wichtigen Punkt nördlich der Stadt zu kontrollieren. Sie erleiden viele Verluste, so dass sie immer mehr ihrer KämpferInnen von auswärts nach Kobanê holen. Derzeit versuchen sie ebenfalls, arabischstämmige Menschen aus der Umgebung in den Kampf zu zwingen. So dass sich viele arabische Familien zur Flucht aus der Region gezwungen sehen.

Können Sie uns schildern, warum der IS ausgerechnet Kobanê angreift?
Da gibt es mehrere Gründe. In Anbetracht der Ideologie des IS und des Gesellschaftsmodells sowie der Verwaltungsstrukturen von Rojava wird erkennbar, dass hierbei zwei äußerst konträre Gesellschaftsvorstellungen aufeinanderprallen. Gegenüber der menschenverachtenden barbarischen Lebensrealität des IS, in der nicht nur Konflikte zwischen den Angehörigen verschiedener Konfessions- oder ethnischer Gruppen geschürt werden, sondern jeder Mensch, der ihrer Meinung nach dem falschen oder gar keinem Glauben angehört, zu töten versucht wird, steht Rojava für Multiethnizität und Multikonfessionalität. Hier leben, auf der Grundlage basisdemokratischer Werte, ChristInnen, ÊzîdInnen, SunnitInnen und Andersgläubige, AssyrerInnen, ArmernierInnen, AraberInnen, KurdInnen und Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen friedlich und gleichberechtigt zusammen. Dieses praktizierte Konzept stellt ein absolutes Novum für den so krisenreichen Mittleren Osten dar. Davor fürchtet sich der IS, wie auch andere Kräfte, weil Rojava als Lösungsmodell für die Probleme des gesamten Mittleren Ostens fungieren könnte. Auch graust es ihn vor der Freiheit der Frau. In keiner Region des Mittleren Ostens ist das Maß der Freiheit der Frau so groß wie in Rojava. Obwohl es in dieser Hinsicht weiterer gesellschaftlicher Transformation bedarf, besonders in der Mentalität, lebt die Frau von Rojava unabhängig, frei, partizipiert am politischen und gesellschaftlichen Leben. Sämtliche politischen Posten sind mit Doppelspitzen besetzt. Es gibt eigene Frauenverteidigungseinheiten, die sich für den Schutz und die Freiheit der Frau einsetzen. Im Gesellschaftsvertrag von Rojava, der eine ähnliche Funktion hat wie Verfassungen in Staaten, wird der Freiheit der Frau und der Gleichberechtigung der Geschlechter besonderer Platz eingeräumt. Es ist der Geist von Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Sakine Cansız, der in dieser von den Frauen geführten Revolution wiederbelebt wird. Der IS betrachtet die Frau als Ware. So werden gerade nichtmuslimische, aber auch muslimische Frauen als Kriegsbeute freigegeben und die Vergewaltigung von Kindern und Frauen wird als Gotteswille verkauft. Der IS hat im 21. Jahrhundert wieder Sklavinnenmärkte für sexuelle Ausbeutung errichtet.

Andererseits spielen aber auch geostrategische Interessen eine gewichtige Rolle. Wir vermuten außerdem andere Kräfte hinter dem Vorgehen des IS.

Vor allem die Türkei steht international im Fadenkreuz. Der türkischen AKP-Regierung wird die Unterstützung des IS vorgeworfen. Es wurden ihm Waffen geliefert, die Türkei lässt die Zivilbevölkerung nicht über die Grenze, geht gewaltsam gegen DemonstrantInnen und JournalistInnen vor. Wie bewerten Sie die Vorwürfe?
Es fällt uns schwer, das Verhalten der Türkei zu bewerten. Sie unterstützt den IS mit Waffen, dafür gibt es stichhaltige Beweise. Weiterhin können IS-KämpferInnen die Grenze zum Übergang nach Syrien nutzen. In türkischen Krankenhäusern werden IS-TerroristInnen behandelt, indessen wird bei IS-Anschlägen verletzten kurdischen ZivilistInnen der Grenzübergang verweigert. Die türkische Armee geht gewaltsam gegen die Zivilbevölkerung vor. Bisher gab es deshalb Dutzende Tote. Die Menschen benötigen dringend humanitäre Hilfe. Es bedarf eines Korridors, das lässt die türkische AKP-Regierung jedoch nicht zu.

Sie sollte mehr im Interesse der türkischen Bevölkerung handeln. Sie muss die Errichtung eines Korridors vor allem für humanitäre Hilfe zulassen. Wir setzen uns seit unserer Gründung für gute Beziehungen mit unseren Nachbarn ein.

»In keiner Region des Mittleren Ostens ist das Maß der Freiheit der Frau so groß wie in Rojava. Obwohl es in dieser Hinsicht weiterer gesellschaftlicher Transformation bedarf, besonders in der Mentalität, lebt die Frau von Rojava unabhängig, frei, partizipiert am politischen und gesellschaftlichen Leben.« | Foto: DIHA

Nun hat der türkische Außenminister Çavuşoğlu erklärt, dass die Türkei kurdischen Peşmergas den Übergang nach Kobanê ermöglichen würde.
Es gibt tausende Freiwillige, die nach Kobanê gehen wollen, um die Bevölkerung vor dem IS zu beschützen. Denen sollte der Übergang gewährt werden. Diese Äußerung der Türkei kam nach der US-Waffenlieferung an YPJ und YPG. Bisher gibt es keine direkte Verbindung zwischen Kantonalregierung in Rojava und Kurdischer Regionalregierung in Südkurdistan.

Ministerpräsident und Staatspräsident der Türkei erklären, dass es sich bei der PYD um einen Ableger der PKK handele. Folglich dürfe man keine Beziehungen mit ihr unterhalten, da sie ihren Aussagen nach eine terroristische Organisation sei. Die Türkei hat selbst mehrfach Gespräche mit der PYD geführt. Sind ihre Aussagen daher nicht als paradox einzustufen, zumal PYD-VertreterInnen mehrmals in die Türkei geladen wurden?
Das stimmt. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, damals noch Außenminister, hat gerade erst erklärt, die PYD mehrmals persönlich eingeladen zu haben.

Es gilt festzuhalten, dass die PKK nicht auf syrischem Territorium agiert. Wir stehen mit ihr in keinerlei organischer Verbindung. Wir sind eine absolut unabhängige Organisation, die sich für die Rechte aller Menschen in Syrien einsetzt. Nur weil wir eine ähnliche Ideologie wie die PKK haben, kann uns das nicht zum Vorwurf gemacht werden.

Wie bewerten Sie die Luftschläge und die Waffenlieferung der USA?
Sie sind wichtig. Doch hätte die Waffenlieferung früher erfolgen müssen. Sie ist auch nicht ausreichend. YPG und YPJ haben mehrmals erklärt, dass sie Waffen benötigten, mit denen sie sich gegen die schwere IS-Artillerie verteidigen können. Weiter ist es wichtig, dass die Luftschläge präzise erfolgen. Die YPG können den Koalitionskräften sämtliche Informationen liefern. Die Panzerfahrzeuge und Raketenwerfer bleiben weiter von den Luftschlägen verschont.

Vor einigen Tagen kam es zu einem Treffen zwischen VertreterInnen des ENKS (Kurdischer Nationalrat in Syrien) und der Übergangsregierung der selbstverwalteten Kantone. Was wurde dort besprochen?
Es wurde ein sechsköpfiges Komitee mit jeweils drei VertreterInnen des ENKS und der Verwaltung von Rojava gegründet. Es ist wichtig, dass der ENKS am Aufbau von Rojava und dem Selbstverwaltungssystem partizipiert. Wir benötigen eine geschlossene Einheit nach außen.

Auch das südkurdische Autonomieparlament hat das Kantonalsystem von Rojava anerkannt.
Die Anerkennung ist wichtig. Doch müssen jetzt auch praktische Schritte folgen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Anerkennung früher stattgefunden hätte und nicht nur 79, sondern sämtliche 110 südkurdische Parlamentsabgeordnete dem Parlamentsbeschluss zugestimmt hätten. Wichtig ist jedoch vor allem die internationale Anerkennung, damit der demokratische Lösungsansatz von Rojava für Syrien und den Mittleren Osten erhalten bleibt. Rojava könnte als Beispiel für Konfliktlösungen gelten und die Demokratisierung in der Region forcieren.

Was benötigt die Bevölkerung von Kobanê und Rojava?
Wie in der gesamten Region sind es in erster Linie Demokratie, Frieden und Freiheit, dessen die Bevölkerung von Kobanê und Rojava bedarf und wonach sie strebt. In diesem Sinne fungiert Rojava als Avantgarde, bzw. als Wegweiser, was als Hauptgrund für seine Isolierung etwa durch Embargo und Angriffe zu nennen ist. Daher braucht Rojava dringend Anerkennung und Solidarität. Es bedarf dringender humanitärer Hilfe. Die Situation der Flüchtlinge ist äußerst kritisch. In diesem Punkt leistet vor allem die Bevölkerung von Nordkurdistan unermüdlich Unterstützung. Wir gehen auf den Winter zu. Sollte nicht schnellstmöglich präventive Hilfe erfolgen, wird es sehr schwer für viele Flüchtlinge, vor allem für die Kinder, den Winter zu überstehen. Ich bin überzeugt davon, dass wir in Kobanê unseren Widerstand bis zum Sieg führen werden. Allerdings wird der Kampf dann nicht zu Ende sein. Es wurde vieles zerstört. Dörfer und Häuser wurden geplündert und verbrannt. Es muss reichlich Aufbauarbeit geleistet werden. Auch dafür brauchen wir internationale Unterstützung. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die im Ausland seit Jahren Solidaritätsarbeit für die Kurdinnen und Kurden leisten. Heute brauchen wir diese Menschen mehr denn je. Denn es fehlt hier an fast allem. Der IS rekrutiert sich aus über 50 Ländern. Wir verteidigen im Kampf gegen diese BarbarInnen nicht nur unsere Bevölkerung, sondern zugleich auch universelle menschliche Werte. Daher bedarf es ebenso internationaler Solidarität und Unterstützung.