Aktuelle Bewertung

Widerstand der Kurden beeinflusst Geschehen im Mittleren Osten

Akif Yaşar

Die Entwicklungen im Mittleren Osten gewinnen immer mehr an Tempo und haben inzwischen eine schwindelerregende Geschwindigkeit erreicht. Die Systemkrise – global, regional und lokal – wird im Mittleren Osten gegenwärtig hautnah erfahren. Die Region durchlebt eine Art dritten Weltkrieg. Dessen Zentrum bilden heute der Irak, Syrien und Kurdistan.

2011 begann mit dem Sturz von Diktatoren, die sich quasi für allmächtig hielten, eine neue Phase, die in Kürze weltweit als »Arabischer Frühling« bezeichnet wurde. Die Revolution der Völker, die für mehr Freiheit, Gleichberechtigung und eine lebenswürdige Welt die Straßen füllten und Widerstand leisteten, mündete in ein langfristiges Chaos, nachdem ihr umgehend die Intervention globaler und regionaler Kräfte widerfuhr. Die Region, in der sich nun diese Krise konzentriert, bilden Irak, Syrien und Kurdistan. Wie dieser »dritte Weltkrieg« hier ausgehen wird, ist momentan nicht absehbar, die Ungewissheit beherrscht die gesamte Region.

Wie konnte IS erstarken?

Im Bürgerkrieg in Syrien wurden terroristische Organisationen wie ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien, seit Juli 2014 IS – Islamischer Staat) von globalen und regionalen Mächten zur Reorganisierung der Region benutzt. Während heute der größte Teil der Welt diese Freischärler als terroristisch einstuft, wurde ihnen unglaubliche logistische Unterstützung gewährt. Alle Flughäfen und Grenzübergänge wurden für ihre Mitglieder sowie militärische Logistik geöffnet. Diese Terrorgruppen, die von Kräften wie den USA, Israel, Türkei, Katar und Saudi-Arabien Schützenhilfe bekamen, um das Assad-Regime zu stürzen, werden heute in ihrem Vorhaben unterstützt, ein sunnitisches Regime von Mûsil (Mosul) bis zum Libanon zu schaffen. Jene erhoffen sich mit dieser (in geografischem Sinne) sunnitischen Linie, die Kontrolle des Iran über die schiitischen Kräfte eindämmen bzw. brechen zu können. Auch die Türkei leistet der sunnitischen Linie Hilfe, um darüber den Machtkampf mit dem Iran zu ihren Gunsten zu bestimmen. Die Einnahme Mûsils am 10. Juni 2014 durch den ISIS/IS und die Ausweitung seiner Angriffe bis an die Grenzen Bagdads sind das Ergebnis eines strategischen Plans. Vor dem Angriff auf Mûsil wurde in den Medien ein Geheimtreffen in Jordanien aufgedeckt, auf dem die Eroberung geplant worden sein soll.1

Den Angaben zufolge nahm auf dieser geheimen Sitzung am 1. Juni in der jordanischen Hauptstadt Amman neben Vertretern aus den USA, der Türkei, Katar, Saudi-Arabien und Israel auch ein Baath-Vertreter wie Izzettin El Duri teil. Außer der Einnahme Mûsils sollen dort auch die Zerschlagung der Revolution in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) und die Ausrufung eines kurdischen Staates in Südkurdistan durch die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) beschlossen worden sein. Nach diesem Plan soll abgesehen von Kerkûk und anderen umstrittenen Regionen auch der Kanton Cizîre in Rojava diesem »kurdischen Staat« eingegliedert werden. Die Entwicklungen scheinen die Berichte zu bestätigen. Erinnern wir uns, dass ISIS/IS nach der Einnahme Mûsils am 10. Juni und Tikrits am 11. Juni und der Beschlagnahme großer Mengen militärischen Materials wie Waffen und Panzer seine Angriffe am 2. Juli mit Eroberungsabsicht auf den Kanton Kobanê und Heseke (Al-Hasaka) in dem Kanton Cezîre lenkte. Wären diese eingenommen worden, wäre die Revolution in Rojava besiegt gewesen. Der Widerstand in Kobanê und Heseke hat nicht nur die in Jordanien geschmiedeten Pläne ins Leere laufen lassen, sondern auch historischen Entwicklungen den Weg geebnet. Nachdem die Angriffe auf Rojava erfolglos geblieben waren, wandte sich der IS schließlich am 2. August nach Südkurdistan, indem er schrittweise Celewla, Şengal (Sindschar), Rabia, dann Maxmur angriff. Diese Attacken haben gezeigt, dass es in keinster Weise im Einklang mit kurdischen Interessen stehen kann, mit Banden wie ISIS/IS gemeinsame Pläne zu schmieden. Auch hat sich im jüngsten Beispiel in Südkurdistan bewahrheitet, dass eine Parteinahme der Kurden im Machtkampf verschiedener globaler und regionaler Kräfte unter dem Deckmantel von Schia und Sunna zwangsläufig zur Instrumentalisierung der kurdischen Karte führt. Im Rahmen ihrer strategischen Beziehungen hat die Türkei die PDK mit in ihren Bann des sunnitischen Blocks gezogen. Dafür hat sie absichtlich das Verhältnis Hewlêr (Arbil)/Bagdad provoziert und in eine Krise geführt. Dagegen hat sich die Lösung des Dritten Weges in Rojava mit Erfolg behaupten können.

Kurdische Verteidigungskräfte von YPG und HPG intervenieren gegen IS

Gegen die IS-Angriffe auf Südkurdistan kam die erste Hilfe von den Volksverteidigungseinheiten (YPG) aus Rojava und kurze Zeit später von den Volksverteidigungskräften (HPG) aus Kandil. Diese Entwicklungen werden zu einer ganz neuen Situation führen. Sie erzwingen die kurdische Einheit und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Verteidigungsmechanismus.

In der gegenwärtigen Lage werden die Kurden entweder ihre nationale Einheit sichern und revolutionäre Entwicklungen schaffen oder die PDK, sollte sie auf ihrer bisherigen Linie beharren, wird nicht nur sich selbst, sondern Kurdistan im Gesamten großen Schaden zufügen.

Eine nationale Einheit wird die Angriffe auf Rojava beenden und eine konkrete neue Realität entstehen lassen, die die gesamte Region befreien wird. Schon jetzt wird die Linie der PKK und Rojavas weltweit mit großem Interesse verfolgt und ihre Unterstützung als notwendig gefordert.

Entwicklungen in der Türkei

Eine historische Phase wie in Südkurdistan und Rojava wird auch in Nordkurdistan durchlebt. Der »Friedensprozess«, den der kurdische Volksvertreter Abdullah Öcalan mit seinem New­roz-Manifest 2013 begann, hält zwar weiterhin an, be­inhaltet aber aufgrund der Politik der AKP-Regierung ernsthafte Risiken. Während die gesamte Region brennt, ist es der Türkei nicht möglich, sich von diesem Feuer fernzuhalten, ohne die kurdische Frage zu lösen und sich zu demokratisieren. Das hartnäckige Festhalten der AKP-Regierung an ihrer konfessionellen und nationalistischen Politik kann in der Türkei zu ähnlichen Verhältnissen wie in Irak und Syrien führen. Die Türkei läuft Gefahr, eine ähnliche Polarisierung wie zwischen Kurden, Schiiten und Sunniten im Irak und in Syrien zu erleben. Folglich wird sie nur mit einer ernsthaften und tiefgründigen Demokratisierung, die die Lösung der kurdischen Frage in sich trägt, einen Bürgerkrieg abwenden können. Wenn der durch die AKP-Politik verschärften gesellschaftlichen Polarisierung kein Einhalt geboten wird, ist Chaos nicht unwahrscheinlich. Wenn in der Türkei bislang keine Verhältnisse wie im Irak und in Syrien entstanden sind, so ist das auf das Lösungsparadigma Abdullah Öcalans und sein Beharren auf einer friedlichen Lösung in der kurdischen Frage zurückzuführen. Die AKP wird ihre bisherige Taktik, die auf Zeitgewinn setzt, ohne konkrete Maßnahmen zur Lösung der kurdischen Frage nicht lange aufrechterhalten können.

Auch wenn das am 10. Juli im türkischen Parlament verabschiedete »Rahmengesetz«2 ein wichtiger Schritt ist, fehlt bislang eine konkrete Praxis. Die Türkei, die sich mit ihrer falschen Politik ohnehin in die Isolation manövriert hat, wird nur durch ihre Demokratisierung und die Lösung der kurdischen Frage ihre Rolle in der Region spielen können, anderenfalls wird die Polarisierung zu einer ernsthaften Zersplitterung des Landes führen.

Am 10. August fand in der Türkei die Wahl des Staatspräsidenten statt. Die Wahlbeteiligung lag bei 73,68 % (insgesamt 40 353 739 gültige Stimmen wurden ausgezählt). Der AKP-Parteivorsitzende und türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan erzielte 51,7 % und konnte schon im ersten Wahlgang gewählt werden. Der gemeinsame Kandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Ekmeleddin İhsanoğlu, erhielt 38,5 % der Stimmen, der dritte Kandidat, Kovorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş, hingegen 9,8 %.3

Während die ersten beiden unter den in sie gesetzten Erwartungen blieben, konnte Demirtaş den Stimmenanteil für die HDP deutlich erhöhen.
Vergleichen wir das Wahlergebnis für Demirtaş bei der Präsidentschaftswahl mit dem der BDP/HDP bei den Kommunalwahlen vom 30. März 2014, dann erkennen wir, dass annähernd fünf Monate nach den 2 930 530 Stimmen (6,48 %) für die BDP/HDP Demirtaş die Stimmenzahl um eine Million erhöhen konnte.

Ein geografischer Vergleich der Stimmenverteilung bei den Kommunal- und Präsidentschaftswahlen zeigt, dass die BDP/HDP am 30. März 65,2 % (1 910 667) aus den kurdischen Gebieten und den Rest von 34,8 % (1 019 841) aus dem Westen der Türkei erhielt, Demirtaş hingegen am 10. August 54,5 % (2 156 709) aus den kurdischen Gebieten und 45,5 % (1 801 801) aus dem Westen.

Das wichtigste Resultat aus dem Wahlergebnis für den HDP-Kandidaten zeigt neben der Stimmenzahl auch deren geografische Verteilung: Programm und Prinzipien der HDP sind auch im Westen der Türkei angekommen und genießen Anerkennung.

Das Wahlergebnis bedeutet für die prokurdische [aber gesamttürkische] HDP einen Wendepunkt in ihrem Vorhaben, mit ihrem Programm die gesamte Türkei zu erreichen.

Das Paradigma dieser Partei in der Türkei, die mit dem »Friedensprozess« weiter gestärkt wurde und sich zu einer Massenpartei entwickeln konnte, hat auch in der türkischen Gesellschaft Hoffnungen geweckt.

Projekt der »Demokratischen Nation« bewährt sich als einzig wahres Lösungsmodell für das herrschende Chaos in der Region

Während die Politik der internationalen und Regionalmächte den Mittleren Osten über die Vertiefung der ethnischen und konfessionellen Zerrissenheit ins Chaos treibt, wirkt das Lösungsprojekt Abdullah Öcalans mit dem Modell der Demokratischen Nation und der Demokratischen Autonomie im Demokratischen Konföderalismus dieser Entwicklung wie im Falle Syriens, der Türkei und jetzt des Irak entgegen. Statt Spaltung, Feindschaft und Krieg beinhaltet das Modell der Demokratischen Nation ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben unterschiedlicher Volksgruppen auf der Grundlage der Wahrung ethnischer und religiöser Identität. Das hat sich auch bei den jüngsten Entwicklungen im Irak erneut gezeigt. Mit ihrer Politik in Syrien, dem Irak und der Türkei haben die Kurden bewiesen, dass sie über das Potential verfügen, neben ihrer eigenen Befreiung auch die Staaten, in denen sie leben, sowie die gesamte Region des Mittleren Ostens bei mehr Freiheit und Demokratie voranzubringen.

Fußnoten:

1) Die Tageszeitung Özgür Gündem veröffentlichte am 4. Juli 2014 einen Artikel von Aktif Serhat über ein Treffen in Amman am 1. Juni, auf dem u. a. der Angriff auf Mûsil geplant worden sein soll. Die Nachricht wird auf einen namentlich nicht benannten Diplomaten zurückgeführt. (http://www.ozgur-gundem.com/index.php?module=nuce&action=haber_detay&haberID=112429&haberBaslik=YER: AMMAN<br>Tarih: 1 Haziran<br>KONU: MUSUL&categoryName=&authorName= &categoryID=&authorID=)

2) Ein gesetzlicher Rahmen für den Lösungsprozess war seit Jahren von Abdullah Öcalan gefordert und ist jetzt in einem Gesetzespaket verabschiedet worden (Öcalan: »historischer Fortschritt«). Darin geht es u. a. um Rückkehrbedingungen für PKK-Militante und Immunitätsregelungen für Beteiligte am Dialogprozess. Vgl.S. 8

3) T. Erdoğan erhielt mit 51,7 % insgesamt 220 880 878 Stimmen, Ekmeleddin Ihsanoğlu 15 052 578 (38,5 %) und Selahattin Demirtaş 3 952 283 (9,8 %).