Leyla ImretInterview mit Leyla Imret, neue Bürgermeisterin von Cizîr

Dies ist der Ort, nach dem du suchst, hier ist das, was du willst!

Aus einer Reportage von Ayşe Arman, Hürriyet, 06.04.2014

Seit den Kommunalwahlen am 30. März ist die Lebensgeschichte Leyla Imrets, die als Kandidatin der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) zur Bürgermeisterin der Stadt Cizîr (Cizre) gewählt wurde, Thema in allen Nachrichten. Mit sieben Jahren hatte sie ihren Vater verloren und war gemeinsam mit der Familie nach Deutschland geflüchtet. Um mehr von ihrer Lebensgeschichte zu erfahren, führte die Journalistin Ayşe Arman ein Interview mit ihr.

Leyla Imret ... dürfen wir Dich kennenlernen?

In welcher Sprache soll ich sprechen?

 

In der Sprache, in der Du Dich wohlfühlst?

Dann fange ich mit Deutsch an. Ich werde öfter mal ins Türkische wechseln. Und wenn ich mich bei einem Thema nicht gut auskenne, spreche ich Kurdisch.
Einverstanden.

Ich bin 1987 in Cizîr geboren und habe dort bis zu meinem siebten Lebensjahr gelebt.

Hast Du Erinnerungen an Deine Kindheit dort?

Enge Straßen, nicht endender Lärm von Schießereien, und jeden Abend wurden wir in den Keller gebracht. Angesteckte Häuser, fliehende Menschen, schreiende und weinende Mütter. Das ist der Boden, der gebrandmarkt ist von Leid ... Uns wurde immer gesagt, dass wir das Haus nicht verlassen sollten. Eines Tages ging ich trotzdem und werde das, was ich gesehen habe, nie vergessen. Hunderte von Menschen lagen draußen auf der Straße. In diesem Moment dachte ich als Kind: »Wieso schlafen sie auf der Straße, haben sie denn kein Zuhause?« Ich habe erst viel später erfahren, dass diese Menschen ermordet worden waren. Es gibt noch eine Geschichte von einem Panzer, die sich in meine Träume einschleicht ...

Um was für eine Geschichte handelt es sich?

Eines Tages, als ich vor unserer Haustür in der engen Straße spielte, kam es auf einmal zu einer Streiterei und Schüsse waren zu hören. Plötzlich fuhr ein Panzer in die enge Straße hinein. Alle versuchten zu fliehen. Während ich rannte, schaute ich mich um und sah, dass der Panzer dicht hinter mir war. Ich geriet in Panik, und genau in diesem Moment sah ich eine offene Haustür und schlüpfte sofort hinein. Der Panzer fuhr an mir vorbei. Ich hatte an diesem Abend so viel Angst, dass ich bis heute noch von diesem Panzer träume.

Wie viele Geschwister seid Ihr?

Drei.

Was hatten Deine Eltern für einen Beruf?

Meine Mutter war nie berufstätig. Und mein Vater arbeitete überall dort, wo er gerade Arbeit fand. Er war ein Freiheitskämpfer. Die Geschehnisse in den 90er Jahren in Cizîr waren grauenhaft. Tote, Morde durch »unbekannte« Täter, vermisste Menschen ... Es wurde eine Politik der Vernichtung angewandt. Wie tausende andere Menschen auch haben wir durch diese Erlebnisse schwer gelitten ...

Stimmt es, dass Dein Vater vor Deinen Augen erschossen wurde?

Nein, ich war nicht dort. Meine Mutter war damals schwanger. Wir waren aus Sicherheitsgründen an diesem Tag an einem anderen Ort. Später haben sie erzählt, dass genau in dem Moment, als mein Vater nach Hause kam, eine Razzia durchgeführt wurde. Ohne zu schauen, wer er ist, ob er schuldig ist oder nicht, wurde das Haus mit Schüssen durchlöchert. Mein Vater rettete alle aus dem Haus, konnte aber selbst nicht vor den Schüssen fliehen und starb ...

Welchen Einfluss hatte der Tod Deines Vaters auf Dich?

Meine Familie ist daraufhin geflohen ... in verschiedene Städte geflohen. Das, was ich in meiner Kindheit erlebte, war der Grund dafür, dass ich mich später in Pädagogik ausbilden ließ. Um Kinder noch besser zu verstehen. Vielleicht auch, um die Erlebnisse meiner Vergangenheit besser zu verstehen. Ich habe eine schwere Kindheit gehabt. Der Verlust meines Vaters ist nicht mein einziger Schmerz ...

Hast Du irgendwelche Erinnerungen an Deinen Vater?

Ich sah ihn nicht so oft, er kam nicht oft nach Hause. Wenn er dann kam, brachte er immer Schokolade mit. Deshalb hat Schokolade eine ganz besondere Bedeutung für mich. Wenn er uns verließ, habe ich immer geweint; am Ende mussten wir uns auf ewig voneinander trennen ...

Meine Mutter konnte ich nach 13 Jahren umarmen

Wie sah Dein Leben nach dem Tod Deines Vaters aus?
Zunächst sind wir zu meinem Onkel in Mersin gegangen und von dort dann nach Deutschland. Unsere Absicht war, mit der ganzen Familie nach Deutschland umzusiedeln und dort von null zu beginnen ...

Und hat sich das verwirklicht?

Nein. Mein Onkel, meine Schwägerin mit ihren drei Kindern und ich sind zuerst nach Deutschland geflogen. Meine Mutter und meine Geschwister sollten nachkommen, sind sie aber nicht ...

Warum?

Weil meine Papiere vollständig waren, die meiner Mutter jedoch nicht. Ich bin mit dem Gedanken nach Deutschland geflogen, dass sie nachkommen werden, doch das ist nicht geschehen ...

Nie?

Niemals! Die Lebensumstände hatten sich nämlich auch verändert. Meine Mutter verlor ihre Mutter und ihren Vater, mein jüngster Onkel trat auf eine Mine und verlor ein Bein. Vor Gericht haben sie ihn älter gemacht und ihn zu 36 Jahren Haft verurteilt, er sitzt nun seit 22 Jahren. Meine Mutter wollte ihren Bruder nicht alleinlassen. So war seine Situation. Und ich konnte nicht zurückkehren. Mir bleib nichts anderes übrig, als in Deutschland ein neues Leben aufzubauen ...

Das bedeutet, seit Deinem siebten Lebensjahr hast Du keinen Vater, keine Mutter, keine Geschwister gehabt ...

Ja. Später starb mein Onkel. Meine Schwägerin hat mich zusammen mit ihren Kindern großgezogen.

Siehst Du es als Chance oder als Unglück an, dass Du in Deutschland aufgewachsen bist?

Als Unglück. Es ist für ein Kind ein großes Trauma, ohne Vater und Mutter aufzuwachsen. Natürlich habe ich eine gute Schulbildung erhalten. Ich wurde zu dieser Frau, die ich heute bin. Ich war eine erfolgreiche Schülerin und sozial eingestellt. Aber ich war immer traurig, gebrochen und hatte immer etwas Trauriges im Inneren, das sich nicht beschreiben lässt. Ich kannte meine Mutter nur von Fotos und habe manchmal mit ihr telefoniert, mehr nicht. Es war eine traurige Situation. Viele Menschen leben mit großen Schmerzen. Entweder gewöhnt man sich daran oder man lernt damit umzugehen. Ich habe es gelernt.

War es für Dich nicht schwierig, in Deutschland zu leben, wolltest Du nicht in die Türkei zurückkehren?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe mich daran gewöhnt. Ich kann sehr gut Deutsch sprechen und habe mich gut anpassen können. Ich hatte nie die Absicht zurückzukehren. Alles, was uns voneinander getrennt hat, war immer noch dort, die Repression, die Lebensgefahr ... Wieso sollte ich dorthin zurückkehren wollen?

Und danach?

2008 ist etwas Wundervolles passiert. Ich bin das erste Mal nach 13 Jahren in die Türkei gereist.
Der Moment, als ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern zusammenkam, war filmreif. Wir haben uns umarmt, geweint und waren fassungslos, uns wiederzusehen, nach all den Jahren mit so vielen Sehnsüchten ...

Was hat Deine Mutter gemacht, als sie Dich zum ersten Mal sah?

Sie war überrascht, sie hatte sich wohl nicht vorstellen können, dass ich so gewachsen war. Ich bin danach fünf Jahre lang ständig in die Türkei gereist. Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt: »Kann ich hier leben?« Es war sehr schwierig, das zu entscheiden.
In Deutschland hatte ich ein Leben und ein Umfeld, an das ich mich gewöhnt hatte. Ich hatte einen Freundeskreis. Ich war frei und konnte tun, was ich wollte. Ich habe eine Zeit lang in verschiedenen Bereichen gearbeitet. Aber am Ende habe ich mich dann entschieden, dass ich hierher zu meiner Familie gehöre, und bin vor sieben Monaten endgültig hierher zurückgekehrt.
Es gab sechs Kandidaten und ich habe die meisten Stimmen bekommen

Wie hast Du Dich entschieden, in die Politik zu gehen?

Ich war immer an Politik interessiert. Ich lese viel, verfolge die Entwicklungen und setze mich mit der kurdischen Geschichte auseinander. Natürlich haben mich meine Erlebnisse, das Leid, das ich erleben musste, dazu gebracht, aktiv in die Politik zu gehen.

Als Du endgültig in die Türkei zurückgekehrt bist, warst Du direkt in Cizîr?

Nein, zunächst in Mersin. Zwei, drei Wochen bin ich dort geblieben. Die Entscheidung, nach Cizîr zu fahren, war für mich nicht einfach, weil dort mein Vater ermordet worden war. Später habe ich mich zusammengerissen und bin voller Mut hierhergefahren. Ich habe unser altes Haus gefunden, ich bin die engen Straßen, auf denen ich als Kind gespielt hatte, entlanggelaufen. Nach 24 Jahren habe ich das Grab meines Vaters besucht. Am Grab habe ich dann gespürt: »Das ist der Ort, nach dem du suchst, das hier ist das, was du willst!« So habe ich gefühlt. Ich wollte für die Frauen meiner Heimat, für meine Bevölkerung etwas tun und habe deswegen meine Kandidatur angeboten. Es gab fünf weitere Kandidaten, ich habe mit einem Unterschied von 209 Stimmen gewonnen ...

Hat Dich niemand in Frage gestellt? Hat niemand gesagt »Was will eine, die jahrelang in Bremen gelebt hat, hier erreichen?«?

Ganz im Gegenteil, ich wurde sehr warmherzig empfangen. Jeder kennt meine Familie und das, was wir erlebt haben. Sie haben mich alle unterstützt.

Und traust Du Dir das auch selbst zu? Wirst Du alle Deine Pläne umsetzen können?

Natürlich, deshalb bin ich ja hier. Ich bin sehr glücklich, wenn ich für die Frauen etwas machen kann.

Was möchtest Du hier umsetzen?

Ich will Möglichkeiten schaffen, dass Frauen auf eigenen Füßen stehen können. Kooperativen aufbauen, Arbeitsmöglichkeiten schaffen und ihren Schritt in das gesellschaftliche Leben fördern. Es gibt noch vieles, was wir tun müssen, wir werden Schritt für Schritt alles umsetzen.

Wird es nicht problematisch mit der Doppelspitze, wenn zwei Personen zu einem Thema entscheiden müssen?

Nein, ganz im Gegenteil, es wird die Arbeit vereinfachen. Der Kovorsitz ist ein System, das die machtbesessene Mentalität nicht akzeptiert, das die Gleichheit zwischen den Geschlechtern nicht nur in der Theorie belässt, sondern praktisch umzusetzen versucht. Wenn nur die Soziologen, Psychologen, Schriftsteller und Journalisten diese Arbeitsweise verfolgen würden. Dieses System bringt den Frauen große Freiheit.

Und wie wird dieses System praktiziert?

Cizîr hat eine Einwohnerzahl von insgesamt 140 000. Entscheidungen über Cizîr werden im Grunde nicht wir als Kovorsitzende treffen, sondern die ganze Bevölkerung von Cizîr. Die Möglichkeit für die Bevölkerung, selbst zu entscheiden, bezeichnen wir als »Demokratische Autonomie«. Die Verwaltung von Cizîr wird außer von uns beiden auch von unserem Rat und den Institutionen sowie von der gesamten Bevölkerung bewerkstelligt werden.

Dieses System gibt es nur bei der BDP und bei keiner anderen Partei, oder?

Nein, gibt es nicht, nirgendwo auf der Welt. Die BDP ist beim Thema Frauen die demokratischste Partei. Ich als Bürgermeisterin werde versuchen, meine Aufgaben mit Freude zu erfüllen. Das Schönste wird sein, wenn ich etwas beitragen kann. Für etwas zu kämpfen ist das Schönste überhaupt auf der Welt, und erst recht, wenn es für die Freiheit ist ...

Weil es in Deutschland kein Verbot gab, konnte ich meine Kultur behalten

Bist Du mit der kurdischen und der deutschen Kultur aufgewachsen?

Ich habe in deutschen Schulen gelernt und bin mit der deutschen Kultur aufgewachsen. Doch weil es in Deutschland kein Verbot gab, war ich nicht von meiner eigenen Kultur abgetrennt, sondern war noch stärker mit ihr verbunden. Ich habe sowohl deutschen als auch kurdischen Unterricht bekommen. Ich habe mich in kurdischen Musikvereinen engagiert ...

Dein Kurdisch soll im Gegensatz zu demjenigen vieler in der Türkei aufgewachsener kurdischer Frauen besser sein ... Wie kommt das?

Nicht nur, dass es hier keine kurdische Bildung gab, hier war es sogar verboten, überhaupt Kurdisch zu sprechen. Ich dagegen konnte zweimal in der Woche am kurdischen Sprachkurs teilnehmen. Deutsch habe ich sehr schnell gelernt ...

Wurdest Du in Deutschland nie ausgegrenzt?

In Deutschland gibt es keine Probleme, wenn man die Sprache spricht, der Kultur gerecht wird und erfolgreich ist. Auch das Auftreten ist wichtig. Ich habe mich diesen Bedingungen angepasst und sah auch modern aus.

Und irgendeine Unterdrückung?

Durch meine Familie oder mein Umfeld? Nein, keinerlei Unterdrückung. In Deutschland wurde mir nicht einmal geglaubt, dass ich Ausländerin bin. Ein Teil der Ausländer, die in Europa groß werden, bleiben zwischen zwei Kulturen. Auf der Straße sind sie mit der deutschen Kultur konfrontiert und zuhause mit ihrer eigenen. Sobald man sich von seiner eigenen Kultur entfernt, eignet man sich stark die deutsche Kultur an. Mir erging es nicht so, ich habe meine eigene Kultur immer wertgeschätzt.