qamislo rojavaFrauen aus Rojava:

Wir haben unsere Ketten gesprengt

Jinda Zekioğlu, ANF, Amed 15.02.2014

Wir haben mit einer sechsköpfigen Frauendelegation aus Rojava, die bei den Frauen-Institutionen in Amed (Diyarbakır) zu Besuch war, über die Folgen der Ausrufung der Demokratischen Autonomie auf den Frauenbefreiungskampf gesprochen sowie über das Leben der einzelnen Frauen vor und nach der Revolution. Die Frauen aus dem Kanton Cizîri waren in Amed mit einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen zusammengekommen und hatten über verschiedene Projekte diskutiert. Necah, Axin, Sadia, Jînda, Nora und Mona ... Sie erzählten ANF von der vielversprechenden Zukunft der kurdischen Frauenbewegung in Rojava, ihrem mühsamen Kampf und über die vielen Opfer, die gebracht werden mussten ...

 

Wir eröffnen unser Gespräch mit der 51-jährigen Necah Husein Amên. Sie beginnt über ihr Leben vor der Revolution in Qamişlo (Al-Qamishli) zu erzählen.

Kehren wir etwas zurück. Dein Leben wurde förmlich zweigeteilt. Wie erinnerst Du Dich an Dein erstes Leben?

Necah Husein Amên: Innerhalb der Familie war Gewalt sehr verbreitet. Wie überall. Ich bin mir sicher, dass es das immer noch gibt. Die Frau war früher im Haus gefangen. Ihr Leben bestand aus Hausarbeit. So konnte sie der Gewalt nicht entfliehen. Ihr Leben hatte keine Sicherheit. Wir Frauen leisteten leise Widerstand, wir waren sehr wenige. Was wir taten, das war, von der Gewalt, die wir sehen konnten, zu berichten und Auswege zu finden. Es gab viele solcher Frauen. Unsere Zahl stieg mit der Zunahme der Gewalt. Es gibt nun viel mehr Frauen, die sich gegen diese Gewalt wehren. Uns das ist unsere Quelle der Hoffnung.

Und hast Du nach der Revolution nun alle Deine Ziele umsetzen können?

Wir haben sehr viel getan. Wichtige Schritte im Vergleich mit einer großen Zahl von Ländern auf der Welt. Aber das reicht uns nicht. Wir haben Organisationen aufgebaut, in denen sind wir als Frauen zusammengekommen. Mit der Organisierung haben wir unsere eigene Stärke zum Ausdruck gebracht. Weil wir in diesem Kampf unseren Platz einnehmen und einen Beitrag dazu geleistet haben, sind wir sehr stolz. Das ist eine Revolution der Frauen! Das sollten sie nicht vergessen. Wir müssen das der ganzen Welt verkünden.

Für die 28-jährige Axin Hasan entfaltet sich die Revolution sowohl in ihrem Inneren als auch in ihrem Lebensraum.

Was gibt Dir in persönlicher und sozialer Hinsicht die Entschlossenheit, diesen Kampf zu führen?

Axin Hasan: Mein eigenes Leben! Vor der Revolution gab es mich nicht. Ich kann nicht sagen, dass ich überhaupt existiert habe. Ich war verheiratet. Ich konnte mich nicht trennen. Ich habe zwei Kinder. Ich hatte nicht ein Recht. Vor der Revolution gab es so etwas wie Frauenrechte überhaupt nicht. Ich bin acht Jahre lang mit meinem Ehemann verheiratet geblieben. Er hat weder etwas von mir, noch habe ich etwas von ihm, vom Leben oder überhaupt etwas verstanden. Wir waren uns gegenseitig sehr fern. Ich konnte mich von ihm nicht trennen. Ich hatte weder eine Sicherheit noch einen materiellen Rückhalt. Meine Familie fühlte sich nicht verantwortlich für mich. Der Staat erkannte mich nicht an. Ich habe alles für meine Kinder ertragen.

Wie hat sich Dein Bewusstsein verändert? Wie haben sich Deine und die Bestimmung Rojavas geändert?

Ich habe Frauen aus der Frauenorganisierung kennengelernt. Sie sahen sehr stark aus. Ich habe ihnen zugehört. Später habe auch ich in der Frauenarbeit meinen Platz eingenommen; habe meine gestohlene Identität, meine Heimat und Kultur neu kennengelernt. Mein Leben hat sich in dieser Zeit verändert. Ich habe durch diesen Kampf Kraft bekommen. Ich habe meine Kinder zu mir genommen und mich von meinem Mann getrennt. Nun lebe ich getrennt. Krieg, Widerstand ... Diese Begriffe bestimmen unser Haus, unser Inneres und unser Land. Ich habe meine Menschlichkeit, mein Leben als Frau neu verstanden.

Die 40-jährige Nora Xelil ist eine derjenigen, die sich die Zeit heute – nach der Revolution – niemals hätte erträumen können.

Ohne Zweifel war es für Dich nicht leicht, heute hier so stehen zu können. Kannst Du sagen »Wir haben von diese Tagen vollständig losgelassen«?

Nora Xelil: Auch früher hatte es einen Kampf der Frauen gegeben. Doch wir sagen Revolution. Eine Revolution kann nicht so einfach passieren. Wir haben einen hohen Preis zahlen müssen. Das kurdische Volk ist eines, das in jedem Winkel der Geschichte Widerstand geleistet hat. Nehmt das Leben so, wie es ist, beugt euch ... Wir haben so ein Schicksal nicht hingenommen. Das werden wir niemals.

Du hast Geschichte geschrieben, Du bist Zeugin der Geschichte. Was hast Du in den letzten Jahren erlebt?

Wir wussten eigentlich nicht so viel vom Frauenkampf. Doch wir haben es zusammen mit diesem Prozess gelernt. Der Krieg und die Revolution wurden zu einem Teil unseres Lebens. Nun haben wir unsere eigenen Institutionen aufgebaut. Wir haben uns dieser Sache noch mehr angenommen. Wir kennen unsere Rolle, unsere Mission. Über alles, was wir in die Praxis umsetzen wollen, denken wir nach, diskutieren und recherchieren wir. Wir haben Kontakt zu allen kurdischen Fraueninstitutionen auf der Welt, beraten uns mit ihnen und bekommen so wichtige Impulse. Im Moment sind 75 % der Frauen in Rojava organisiert. In jedem Bereich des Kampfes arbeiten sie. Sie erleben ein Erwachen. Vielleicht hat sie eine Waffe getragen oder ein Gesetz geschrieben. Das spielt keine Rolle! Der Kampf der Frauen in Rojava ist ein Kampf des kurdischen Volkes. Vielleicht sind die Frauen mit ihrer Kraft, die sie nach der Revolution gefunden haben, ein Beispiel für hunderte Frauen, für Gesellschaften und Frauen, die auf der Welt unter ähnlicher Unterdrückung leiden. Wir haben unsere Ketten gesprengt.

Jînda Şêxmûs ist 26 Jahre alt. Sie hat zwei Kinder. Die Quelle des Leuchtens in ihren Augen ist das Feuer des Widerstandes.

Wenn Du an früher denkst, wie fühlst Du Dich?

Jînda Şêxmûs: Sehr stark! Ich will hoffen, dass wir diese dunklen Tage hinter uns gelassen haben. Es war sehr schwer. In jeder Hinsicht schwer. Ich hatte zwei Kinder, ihr Aufziehen und der Krieg waren mein persönliches Erwachen. Es war alles sehr schwer. Wir Jugendliche haben in der Revolution Rojavas unsere Rolle gespielt und unsere Mission erfüllt. Rojava ist eine Region mit einer unglaublichen Vielfalt. Ihre Quellen sind sehr reich. Es gibt viele Jugendliche. Es gibt so viel zu tun. Es gibt nun keine Zeit mehr, die unnütz vergeudet werden kann. Wenn die Kooperativen aufgebaut sind, können die Frauen ihren Lebensunterhalt nun selbst verdienen. Ein Großteil der Bevölkerung, die während des Krieges migrierte, war Männer. Die meisten, die ihr Leben als KämpferInnen verloren, waren Männer. Aus diesem Grund gibt es eine große junge weibliche Bevölkerung. Deshalb wollen wir neue Projekte starten. So werden wir unserer Freiheit, die wir unter so schwierigen Bedingungen erkämpft haben, würdig sein.

Sadie Abdullah ist 38 Jahre alt und Englischlehrerin. Sie ist Teil des Gesetzgebenden Rates in Cizîre und bereitet die Gesetzentwürfe vor.

Eine der wichtigsten Errungenschaften der kurdischen Freiheitsbewegung hast Du eins zu eins erlebt. Infolge dieser Errungenschaft wird nun über Gesetze diskutiert. Du trägst eine große Verantwortung, oder?

Sadia Abdullah: Sicher! Wie bereits zuvor in der Geschichte haben die KurdInnen einen Freiheitskampf geführt. Dieser Kampf dauert an. Mit dieser Verantwortung Gesetze zu erarbeiten ist sehr schwer. Wir hätten uns das nicht mal erträumt und nun schreiben wir es mit unseren eigenen Händen. Es ist eine aufregende und wichtige Aufgabe.

Welche Errungenschaften gibt es heute? Kannst Du kurz etwas über die Räteverwaltung erzählen?

Vor der Revolution hatte die Frau kein Recht auf Worte und Entscheidungen. Nun sind wir berechtigt zu sprechen und Entscheidungen zu fällen. Wir sind in jedem Bereich einflussreich. Im Moment haben wir eine Übergangsregierung. Bald wird es Wahlen geben. Wir haben eine 40-prozentige Frauenquote festgelegt. Doch es wird daran gearbeitet, sie auf 50, 60 Prozent anzuheben. Wir benutzen das System einer Doppelspitze. Zum Beispiel ist der Kovorsitzende in Cizîre ein Christ. Wir versuchen, auf alle Anforderungen Antworten zu finden.

Mona Abdulselam ist 43 Jahre alt und Sprecherin des Frauenvereins »Sara«.

Welche Mission hat der Frauenverein »Sara« in der Revolution von Rojava?

Mona Abdulselam: Wir waren Frauen, die sich gegen Gewalt zusammengeschlossen hatten. Vor der Revolution haben wir solche Arbeit gemacht. Unser Kampf für die eigene Identität, nicht nur für das Kurdischsein, sondern auch gleichzeitig der Kampf für die freie Frau, war angesichts zweier Herausforderungen, konzentriert in einer, noch schwerer und härter. Wir möchten als Frauenverein Sara während des Krieges und danach Gewalt gegen Frauen verhindern und für die Freiheit der Frau als Individuum kämpfen. Weil ich bereits zuvor gearbeitet hatte, konnte ich das Haus problemlos verlassen, doch im Allgemeinen konnten die Frauen nicht so leicht raus. Sie konnten sich selbst nicht artikulieren. Sie konnten sich an keine Institution wenden, wenn sie Opfer von Gewalt wurden. Kurz gesagt: Sie wurden ignoriert!

In welchem Umfang reichen die festgelegten Gesetze und Rechte aus?

Erstens schreiben die Frauen nun Gesetze. Das ist ein wichtiger Erfolg. Es gibt viele Frauen, die in den Fraueneinrichtungen arbeiten. Diese Organisationen und politischen Gebilde spielen eine einflussreiche Rolle im Hinblick auf die Errungenschaften der Freiheiten der Frau. Die Frauen sind nun in einem gewissen Maße im Bewusstsein der Völker. Wenn ihnen etwas zustößt, wissen sie, an wen sie sich wenden können. Sie wissen, wie sie sich organisieren können, wie sie dieses System verändern können.

»Wir ignorieren nicht die Familie, wir wollen die Gleichheit der Frau«

Beim Treffen der beiden Schwesterorganisationen, des Frauenvereins »Ceren« und des Frauenvereins »Sara«, ging es vor allem um einen Austausch von Ideen. Diese sechs Frauen aus Rojava diskutierten, welche Projekte sie für einen wirksamen Frauenkampf in Rojava in Angriff nehmen werden, wie sie die Menschen zur Teilnahme bewegen wollen und wie die Organisierung vonstattengehen soll; ihre persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen teilen sie mit den Frauen in Amed.

Ihr habt ein Frauen- und Familienministerium gegründet. Dieser Name birgt die Gefahr, dass dadurch der Frau keine Rolle außerhalb der Familie zugestanden wird. Nach konservativem islamischem Verständnis wird deshalb in vielen Staaten dieses Ministerium dazu missbraucht, die Rechte der Frauen unter den »Familienangelegenheiten« zu subsumieren. Haltet Ihr deshalb einen solchen Namen für das Ministerium für richtig?

Sadia Abdullah: Zunächst möchte ich anmerken, dass wir mit den bisherigen Gesprächen hier in Amed sehr zufrieden sind. Wir haben viele Gespräche geführt. Wir haben uns alles notiert. Wir haben den Praxiserfahrungen zugehört und werden, wenn wir nach Qamişlo zurückgekehrt sind, auf der Basis dessen unsere Arbeit fortsetzen. Der einzige Grund, warum sich Frauen der Gewalt beugen, ist ein wirtschaftlicher! Weil sie über keine ökonomische Freiheit verfügen, können sie ihre Ehe nicht auflösen. Wenn sie eine Arbeit für ihren eigenen Lebensunterhalt hätten, würde keine Frau sich der Gewalt beugen. In Rojava ist die Frau meistens die Begründerin der Familie, diejenige, die sie zusammenhält. Früher wurde das sehr stark missbraucht. Es ist immer noch so. Wir wollen den Begriff der Familie nicht ignorieren, sondern wir wollen, dass Frau und Mann in der Familie gleichberechtigt sind. Es heißt Familienministerium, um die Frau im Bereich von Wirtschaft und Beschäftigung sowie im Sinne sozialer Sicherheit zu stärken.

Auch in der Türkei hieß das Ministerium Frauen- und Familienministerium. Später wurde die Phrase »Frau« gestrichen. Nun wird nur die Familie geschützt. Habt Ihr nicht die Sorge, dass dies auch Euch passieren könnte? Habt Ihr es gesetzlich abgesichert?

Unsere Gesetze sind klar. Auf allen Vorstandsebenen sind Frauen vertreten. In unserem Rat sind 40 % Frauen. Wir werden dieses Verhältnis auf mindestens 50 % anheben. So kann das Gesetz nicht zum Nutzen von irgendjemand geändert werden. Frauen werden diesen Schritt in den notwendigen Gremien verhindern. Doch trotzdem gibt es in diesem Bereich Kritik an uns. Wir nehmen sie ernst.

Vielerorts in der Welt sind Frauen mit religiöser Begründung Gewalt ausgesetzt. In Rojava gab es noch vor Monaten das Fatwa »Die Frauen und der Besitz von Kurden sind halal«1. Was plant Ihr, um religiös begründete Gewalt zu verhindern?

Mona Abdulselam: Die unter religiösem Deckmantel verübten Ehrenmorde können nicht mit Religion begründet werden. Wir planen eine spezielle Erarbeitung dieser Phänomene in unseren Gesetzen unter dem Dach geschlechterspezifischer Diskriminierung. Die Religion soll als Mittel benutzt werden, um die Frau zu ermorden. Von radikalen Islamisten gibt es in den letzten Jahren eine Angriffspolitik gegen die kurdischen Frauen. Fatwas sind ein Beispiel dafür. Wir leisten dagegen Widerstand. Es ist nicht möglich, dass wir Seite an Seite mit Denkmustern stehen, die das Recht auf Leben missachten.

1 -Für die islamistischen Gotteskrieger sind im Krieg in Rojava nach «islamischer Rechtsauskunft« (»Fatwa«) Übergriffe «nach islamischem Recht erlaubt« (»halal«).

Quelle: http://firatnews.biz/news/kadin/rojavali-kadinlar-zincirlerimizi-kirdik.htm