Auf der Flucht aus SengalŞengal:

Islamischer Staat, kurdische (Un-)Abhängigkeit und das Versagen des Nationalstaatsparadigmas

Dilar Dirik

Eines Tages wachte die Welt auf und merkte plötzlich, dass die Religionsgemeinschaft der Êzîden existiert und dass eine radikale Dschihadistengruppe namens Islamischer Staat, IS (früher auch bekannt als Islamischer Staat in Irak und Syrien, ISIS), Menschen im Irak ermordet. Offenbar sei der IS »durch die Region gefegt«, habe plötzlich, unvorhersehbar, unberechenbar, ohne Warnung, aus dem Nichts angegriffen! Und die nächstbeste Idee, die uns im Hinblick auf eine Lösung der Krise in den Sinn kommt, sind westliche Intervention und Bomben ...

Manche sagen, man solle in Krisenzeiten nicht mit Schuldzuweisungen anfangen – ein sehr bequemer Ausweg für all jene Parteien, Institutionen und Staaten, die aktiv oder passiv zum Aufstieg, zur Verbreitung und zur Etablierung des Islamischen Staates beigetragen haben! Was für eine morbide Art, einen ungerechten Krieg im Irak, die internationale Vereinnahmung und Instrumentalisierung des so genannten »arabischen Frühlings«, den globalen Waffenhandel, sektiererische Politik, Islamfeindlichkeit und den »Krieg gegen den Terror« einzutrüben, um die Verantwortung weit, weit wegzuwerfen, bis die nächste »unabwendbare« Tragödie kommt! Im Gegenteil, die Opfer dieses modernen Völkermords zu respektieren bedeutet, offen und kritisch zu sprechen, so dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können. Wie viel von diesem Inferno, das derzeit durch den Mittleren Osten weht, war wirklich unabwendbar? Ist der IS wirklich aus dem Nichts entstanden? Und wie realistisch ist es zu glauben, dass er nach ein paar US-Luftangriffen verschwinden wird?

Die aktuelle Krise als Ergebnis der Politik der herrschenden Weltordnung zu verstehen, die Regierung nur im Rahmen von Staat, Macht und Hegemonie begreift, kann uns helfen, die Heuchelei des US-amerikanischen Retter-Komplexes und der »europäischen moralischen Pflicht« zu verstehen, Waffen an Verbündete zu liefern, nachdem zuvor begeistert Waffen an Länder wie Saudi-Arabien und Katar verkauft wurden, die die Dschihadisten offen unterstützen, während das NATO-Mitglied Türkei den Islamisten Möglichkeiten gab, sich frei über die Grenze zu bewegen und ärztliche Behandlung in türkischen Privatkliniken zu bekommen. Es wird ebenfalls dazu beitragen zu erklären, wie dieselbe von den USA unterstützte kurdische Partei, die seit langer Zeit auf eine arrogante und chauvinistische Weise und auf Kosten von Kurden in anderen Regionen ihre Unabhängigkeit vom Irak propagiert, ihre Truppen so schnell aus Şengal (Sindschar) ohne Kampf zurückziehen konnte, so dass die Êzîden dem IS ausgeliefert waren, und wie stattdessen die international ausgegrenzten Kurden ohne ausländische Unterstützung Zehntausende von Êzîden retteten und dennoch als Terroristen bezeichnet werden. Inwiefern enthüllt die humanitäre Katastrophe in Şengal das wahre Gesicht des Status quo, genauer gesagt des Paradigmas des Nationalstaates mit seinen kapitalistischen, chauvinistischen, patriarchalischen Grundlagen? Und wie konnte die kurdische »Unabhängigkeits«-Partei am Ende so abhängig von anderen sein, während die kurdischen Parteien, die nicht mehr für einen Staat kämpfen, weil sie ihn als inhärent repressiv begreifen, und denen deshalb von Nationalisten vorgeworfen wird, auf »Unabhängigkeit« zu verzichten, eine ganze Gemeinde retteten, indem sie eine alternative, bedeutendere Form der Unabhängigkeit, außerhalb der vorgegebenen Parameter des Staates, an den Tag legten?

Anfang August wurden Tausende von êzîdischen Kurden, Mitglieder einer alten Religionsgemeinschaft, die bereits 72 Massaker in ihrer Geschichte erlebt hat und jetzt erneut vor einem weiteren Völkermord steht, Opfer von Massenmordaktionen des IS in Şengal, einem Ort, den die Êzîden als heilig betrachten. Zehntausende von Menschen waren gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und in die nahe gelegenen Şengal-Berge zu fliehen. Viele Menschen, vor allem Kinder und ältere Menschen, starben auf der Flucht und Zehntausende waren tagelang in den Bergen gestrandet, wo sie dem Tod durch Hunger und Dehydration ins Gesicht sahen. Eigentlich hätten die Êzîden in Şengal von den Peschmerga (kurdischen Kampfeinheiten, wörtlich »die, die den Tod konfrontieren«) der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), der regierenden Partei der Autonomen Region in Südkurdistan (Nordirak) geschützt werden sollen. Als der IS allerdings einen Angriff auf Şengal startete, zogen sich diese Kräfte unmittelbar ohne Kampf und ohne Vorwarnung zurück, so dass die Bevölkerung der Gnade des IS überlassen war. Zeugen berichten, dass die Peschmerga sich weigerten, die Menschen mit Waffen zu versorgen, so dass sie sich wenigstens selbst hätten verteidigen können. Hunderte von Menschen wurden brutal ermordet, während Zehntausende verzweifelt in die nahe gelegenen Şengal-Berge flohen, wo sie ohne Nahrung, Wasser, Medizin oder andere Grundversorgung gestrandet sind. Man schämt sich, auf sachliche Art und Weise über diese unmenschlichen Massaker zu schreiben.

Stattdessen waren es die Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) – die seit zwei Jahren Rojava gegen das Assad-Regime sowie dschihadistische Banden verteidigen –, die die verblassende irakisch-syrische Grenze überquerten, um die Êzîden, die eigentlich von der viel besser ausgestatteten PDK geschützt werden sollten, zu verteidigen. Durch die Schaffung eines humanitären Korridors waren die YPG/YPJ in der Lage, Zehntausende von gestrandeten Flüchtlingen zu retten. Anschließend haben sie das Newroz-Flüchtlingslager in Dêrik, Rojava, gegründet, wo unzählige Flüchtlinge nun auf weitere humanitäre Hilfe warten. Kurz nach der YPG-/YPJ-Intervention trafen auch die Guerillas der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) von den Kandil-Bergen ein, um sich dem Kampf gegen den IS anzuschließen und die angegriffenen Menschen und Regionen zu verteidigen.

Kämpferinnen und Kämpfer der Verteidigungseinheiten YPJ und YPG

Die êzîdischen Flüchtlinge, schockiert und enttäuscht vom Abzug der stark idealisierten Peschmerga-Streitkräfte, verfluchen nun die PDK und sagen Dinge wie »Gott und die PKK haben uns gerettet«, »Wenn die PKK die Êzîden nicht gerettet hätte, würden wir nun keinen Einzigen am Leben sehen« oder »Die, die die PKK nicht kennen, sollen es herausfinden; sie haben den Şengal-Berg befreit«. Viele haben sich den Reihen der YPG/YPJ angeschlossen, um ihre heilige Heimat zu befreien und zurückzuerobern.

Sehr zum Vorteil der PDK applaudierten die Mainstream-Medien »kurdischen Kämpfern« zur Rettung der Êzîden aus den Bergen und warfen somit »die Kurden« in einen monolithischen Topf. Auch wenn die Peschmerga-Kräfte nun mit US-Unterstützung einige strategische Siege erlangen, hat die PDK, die erst im Juni die irakische Armee ausgelacht hatte, die in Mûsil (Mosul) und Kêrkuk vor ISIS-Attacken in die Flucht gerannt war, die Êzîden in Şengal im Stich gelassen. Dennoch gibt es einige Nachrichtenartikel und TV-Programme, die es auf wundersame Weise schaffen, ganze Berichte über die Situation in Şengal zu veröffentlichen, ohne auch nur einmal die Schlüsselrolle der YPG/YPJ und der PKK-Guerilla zu erwähnen, obwohl diese eine in jeder Hinsicht eindrucksvolle Rettungsmission geleistet haben und nun einstimmig von den Flüchtlingen gelobt werden. Einige Artikel erwähnen die »syrischen Kurden« marginal in ein oder zwei Sätzen, bevor sie dann zur Diskussion übergehen, warum die »US-alliierten, prowestlichen, irakischen Kurden es verdienen, gegen den IS bewaffnet zu werden«. In einem Bericht wurde das Lob eines Zeugen für YPG/YPJ und PKK als Lob für »Peschmerga« übersetzt. Es gibt sogar eine überraschende Menge an Artikeln über Peschmerga-Frauen ohne Kampferfahrung, die gegen den IS kämpfen wollen. Auch wenn die Absichten dieser Peschmergas bestimmt mutig sind, ist es interessant, dass Frauen in den YPG/YPJ, die intensive Erfahrung im Kampf gegen den ISIS/IS haben, weil sie bereits seit fast zwei Jahren gegen ihn kämpfen und dabei auch sterben, nicht so viel schnelle Aufmerksamkeit erhalten haben.

Primitiver Nationalismus, fratrizide Verratspolitik und (Un-)Abhängigkeit

Seit langer Zeit führen die PDK und ihr Vorsitzender, der Präsident der Autonomen Region, Masud Barzanî, eine Kampagne für die kurdische Unabhängigkeit vom Irak. Dabei betreiben sie eine aktive Politik der Ausgrenzung und Feindseligkeit gegenüber den Kurden in der Türkei, Syrien und dem Iran. Eine der engsten Verbündeten der PDK ist die Türkei, ein Land, in dem 10 000 Kurden als politische Gefangene in Gefängnissen sitzen, weil sie dort immer noch für die Anerkennung als gleichberechtigte Bürger kämpfen. Ein weiterer Staat, der die Politik der Regionalregierung Kurdistan (KRG) dominiert, ist der Iran, wo kurdische Aktivisten regelmäßig vom Regime exekutiert werden. Der Opportunismus der PDK, um ihre eigene Macht zu festigen, erreichte ihren Höhepunkt, als sie eine äußerst feindselige Haltung gegenüber Kurden in Rojava einnahm, als diese inmitten des syrischen Bürgerkriegs drei autonome Kantone für die regionale Selbstverwaltung schufen. Abgesehen von aggressiver Propaganda schloss die PDK die Grenze für Flüchtlinge, die den IS-Massakern entfliehen wollten, und hielt humanitäre Güter zurück. Im April ging die Partei sogar so weit, einen Grenzgraben zwischen West- und Südkurdistan auszuheben. Dabei richteten Peschmerga-Kämpfer Waffen auf die protestierende Menschenmenge an der Grenze. Die Menschen nahmen dies als Hochverrat wahr und nannten es ein »zweites Lausanne«. Wie ironisch, einen kurdischen Staat zu propagieren und von Kurden als das zweite Lausanne bezeichnet zu werden! Das Freiheitsverständnis der PDK definiert sich über kapitalistisches Wirtschaftswachstum, idealisiert durch »unabhängige« Erdölverkäufe, Luxushotels und Einkaufszentren, während es aktiv die in Lausanne gezogenen Grenzen bekräftigt und dadurch zur Unterdrückung anderer Kurden beiträgt. Dementsprechend ist der Abzug der Peschmerga eigentlich nicht allzu überraschend. Sie wurden für die Unabhängigkeitspropaganda instrumentalisiert, um die Männlichkeit des »unbesiegbaren« De-facto-Staates zu symbolisieren. Die Mystifizierung des Peschmerga-Seins assoziiert diese Identität mit dem kurdischen Freiheitskampf. Aber was zuvor echte »Konfrontation des Todes« gegen die Armee von Saddam Hussein war, hat sich zu einem regulären Job mit Gehalt entwickelt. Abgesehen davon sind die Einheiten nach politischen Loyalitäten aufgeteilt, so dass YNK [Patriotische Union Kurdistans; zweite dominante Kurdenpartei in Südkurdistan] und PDK ihre eigenen Milizen in bestimmen Regionen besitzen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass etliche ältere Menschen im Ruhestand sich den Peschmergas angeschlossen haben, um gegen den IS zu kämpfen, während die jüngere Generation ohne Kampferfahrung weniger Motivation zeigt, zumal viele von ihnen aufgrund aktueller Budgetkürzungen der zentralirakischen Regierung für die südkurdische Regierung nicht regelmäßig bezahlt wurden. Der Schutz der Menschen, der sonst für Propagandazwecke verherrlicht wird, wurde auf einen weiteren Teil der Institution des Staates reduziert.

Ideologisch steht die tribal-feudale, konservative PDK in krassem Kontrast zu der linken Ideologie der kurdischen politischen Bewegung um die PKK, der traditionellen Rivalin der PDK. Obwohl die PKK mit dem Ziel eines unabhängigen kurdischen Staates in den späten 70er Jahren aufbrach, hat sie ihre Vision verändert und fördert nun radikale lokale Basisselbstverwaltung, basierend auf der Geschlechterfreiheit und ökologischem Wirtschaften. Somit sollen die bestehenden willkürlichen Grenzen bedeutungslos gemacht werden. Die Ideologie lehnt die Institution des Staates als unterdrückendes und hegemoniales System ab und verwirft den Nationalismus als ein primitives, rückständiges Konzept. Diese Abkehr von Staatlichkeit als das ultimative Manifest der »Unabhängigkeit« hat nationalistische Parteien wie die PDK dazu veranlasst, der PKK-nahen Bewegung vorzuwerfen, den »kurdischen Traum« aufgegeben zu haben. Die Revolution in Rojava steht ideologisch den PKK-Ideen nahe und das System, das dort aufgebaut wird, gründet sich größtenteils auf dem Konzept des »Demokratischen Konföderalismus«, basierend auf den Theorien Abdullah Öcalans, des ideologischen Vorsitzenden der PKK. Dies wurde von der internationalen Gemeinschaft als Grund für die Kriminalisierung und Ausgrenzung der Rojava-Kantone genutzt. Ein Beispiel dafür ist der Ausschluss der Kurden von der Genf-II-Friedenskonferenz Anfang 2014, die die Krise in Syrien lösen sollte – trotz der Tatsache, dass Rojava die einzige Region in Syrien ist, die es geschafft hat, säkulare, demokratische, inklusive Selbstverwaltungsstrukturen inmitten eines Bürgerkrieges und Angriffen des Assad-Regimes und der Dschihad-Gruppen zum Trotz aufzubauen.

Stimmt es wirklich, dass Ideologie keine Rolle mehr in der Politik spielt, wie oftmals behauptet? In vielerlei Hinsicht veranschaulichen die Ereignisse in Şengal die Umsetzung des Demokratischen Konföderalismus in Aktion und das Scheitern des Paradigmas des Nationalstaates. Bei dem Versuch, Befreiung im Sinne des kapitalistischen Wachstums zu definieren, wobei beispielsweise ein seltsamer Stolz in Erdölverkäufen gefunden wird, von denen wirklich nur ein paar Multi-Millionär-Stämme profitieren, statt die Entwicklung der Gesellschaft auf eine wertvolle Art und Weise zu fördern, und bei dem Versuch, Unabhängigkeit nur innerhalb der engen Parameter des Nationalstaates zu finden, hat sich die PDK komplett versklavt und ist nun absolut von anderen abhängig. Trotz der Macho-Versuche, Unabhängigkeit auf Kosten anderer Kurden und anderer Völker in der Region zu erklären, scheiterte die PDK daran, ihre eigenen Bürger zu schützen, und veranschaulicht somit, dass die Bestätigung der herrschenden Machtordnung gleichbedeutend mit dem Gegenteil von Unabhängigkeit ist. Diejenigen, die jetzt in völliger Verleugnung des Abzugs ihrer Helden von Şengal sind, versuchen nun, ihr Gesicht zu wahren, indem sie jede Kritik an der PDK unter Berufung auf diese geheimnisvolle Sache namens »kurdische Einheit« abwehren. Natürlich ist es sehr bequem, Kritik an der PDK als Provokation gegen die »Einheit« darzustellen. Aber in Wirklichkeit ist es sehr offen und klar, wer durch seine opportunistische Politik zur Un-Einheit unter Kurden beigetragen hat. Die PDK förderte durch ihre Feindseligkeit gegenüber Rojava den Aufstieg des IS. Als Kurden in Rojava vom IS massakriert wurden, grub die PDK eine Grenze und richtete Waffen auf die Menschen. Und jetzt, wo Südkurdistan bedroht ist, ist es nicht die grenzgrabende, ölverkaufende, wohlhabende, etablierte und international unterstützte kurdische Partei, die PDK, die Zehntausende von Menschenleben in ihrem Machtbereich gerettet hat, trotz ihrer arroganten Unabhängigkeitskampagne. Die, die den Nationalstaat ablehnen, haben unabhängig eine Rettungsmission gestartet, unabhängig ohne fremde politische, wirtschaftliche oder militärische Unterstützung gegen den IS gekämpft, und unabhängig ein Flüchtlingslager für über zehntausend Êzîden gegründet, weil ihr Verständnis von Selbstbestimmung, Freiheit, Autonomie und Unabhängigkeit den restriktiven, unterdrückenden Rahmen, in dem die Institution des Staates operiert, ablehnt. Ihr Bestehen auf Selbstvertrauen und Eigenständigkeit illustriert einen bedeutenderen Begriff von Unabhängigkeit sowie wahre Einheit, trotz ihrer Kritik am Nationalismus als rückwärtsgewandtes Dogma. Bekanntlich waren es schließlich PKK, YPG/YPJ und die Guerilla der Partei für ein Freies Leben in Kurdistan (PJAK) aus Rojhelat (Ostkurdistan), die ihre sofortige Unterstützung für Südkurdistan erklärten, als Mûsil und Kêrkuk angegriffen wurden, genauso wie sie jetzt Südkurdistan schützen, unabhängig vom Opportunismus der PDK. Außerdem strebt ihre Vision nicht nur nach der Einheit der Kurden, sondern aller Völker, wie ihre Politik in der Praxis auch bezeugt. Offensichtlich besteht hier ein gewaltiger Unterschied zwischen verschiedenen Auffassungen von »Unabhängigkeit« und »Einheit«.

Kämpferin der YPJ

Die Politik der PDK beutet die nachvollziehbare emotionale Bindung der Menschen an Freiheit aus, die einen Völkermord unter Saddam Hussein erlebt haben. Daraus resultiert eine Mentalität, die das Bewusstsein der Menschen so weit verzerrt, dass jede Herausforderung der korrupten Herrschaft als »Versuch, das zu zerstören, was wir durch viele Opfer schwer verdient haben«, bezeichnet wird. Das Verständnis der PDK von Freiheit ist, das zu haben, was alle anderen auch haben – Macht, Establishment und Hegemonie. Doch in Wirklichkeit ist absolut kein Staat im Mittleren Osten autonom und unabhängig auf eine ernst zu nehmende Art und Weise. Was veranlasst die Menschen dazu zu denken, dass die KRG, die selbst immer noch an die irakische Regierung gebunden ist, die ebenfalls eine Marionettenregierung der USA ist, zu etwas werden kann, das es wert ist, »unabhängig« genannt zu werden? Wenn die Menschen ein solches System bevorzugen, das auf leerem, chauvinistischem Nationalismus und völliger Abhängigkeit von ausländischen Mächten, in der Illusion, unabhängig zu sein, basiert, dann sollten sie das Paradigma des Nationalstaats mit all seiner Hässlichkeit und Korruption akzeptieren. Sie sollen entscheiden, ob es ein würdiger »kurdischer Traum« ist, wenn eine iranische Botschaft in Südkurdistan eine Erklärung abgeben kann, die besagt, »Kurdisch ist keine Sprache«. Oder ob es eine Quelle des Stolzes sein sollte, dass der türkische Außenminister Davutoğlu die südkurdische Bevölkerung auf Kurdisch anspricht, wenn Tausende von politischen Gefangenen in türkischen Gefängnissen sitzen, weil sie wollen, dass die kurdische Sprache eine Rechtsgrundlage in der Türkei hat. Wenn das das Kurdistan der Träume ist, sollte man weniger überrascht sein, dass diese Art von »Unabhängigkeit« bedeutet, verzweifelt auf amerikanische Hilfe warten zu müssen, während êzîdische Bürger massakriert werden. Aber dann hätte man auch nicht die irakische Armee in Mûsil und Kêrkuk auslachen sollen. Oder vielleicht sollte man einfach aufhören, den Begriff der Unabhängigkeit zu missbrauchen. Aber die PDK, mit ihrer hinterhältigen Propaganda über Staatlichkeit, nutzt Begriffe wie »Unabhängigkeit« – clevere Terminologie, zu der kein vernünftiger Kurde, so glaubt man, Nein sagen würde – aus, um ihre Macht zu konsolidieren. Das sollte jedoch eine Beleidigung für die Menschen sein, die in der Hoffnung auf Freiheit tapfer gegen Saddam Hussein gekämpft haben.

Es ist keine Überraschung, dass im Juni dieselbe vom Staat besessene Mentalität begeistert Netanjahu für seine Unterstützung eines kurdischen Staates lobte. Obwohl man denken würde, dass die Kurden das Leiden der Palästinenser unter der faschistischen Apartheid-Besatzung des Staates Israel sehr gut verstehen sollten, ist es wieder einmal das Dogma des Staates, das Moralität in Bezug auf Machtinteressen definiert, was zu der absurden Schlussfolgerung führt, sich mit Israel verbünden zu müssen. Vielleicht haben sich ja die Kurden, die Netanyahu applaudiert hatten, geschämt, als kurz nach seiner Erklärung zur Unterstützung der kurdischen Staatlichkeit ein erneuter mörderischer Feldzug gegen das palästinensische Volk durch Israel ins Leben gerufen wurde.
Dieselbe Mentalität, die sich auf diese Illusion von Unabhängigkeit stützt, hält die Menschen in einem so tiefen Zustand falschen Bewusstseins, dass sie fast schreien »Vielen Dank für die Bomben, Amerika!«, als wäre die US-Außenpolitik darauf aus, Bomben aus ihrer zufälligen, bedingungslosen Liebe für das kurdische Volk heraus auszuteilen. Zunächst einmal ist der aktuelle Diskurs in den internationalen Medien – der durch Kalkulationen, ob die Kurden Unterstützung »verdienen«, je nachdem, wie »treu« sie dem Westen gegenüber sein könnten, die Kurden wie auswechselbare Objekte behandelt – absolut unverschämt, rücksichtslos und erniedrigend. Über die Köpfe von Menschen hinweg, die einem Völkermord ins Gesicht starren, spekulieren westliche Analysten, welche Gruppen westlichen Interessen besser dienen können und ob diese es verdienen, mit den gleichen Waffen, die vom Westen zuvor an korrupte Regierungen verkauft wurden, die diese dann leichtherzig an Dschihadisten übergeben haben, gesegnet werden sollten. Zweitens gehören der globale Waffenhandel und die US-Politik zu den Faktoren, die diese schreckliche Situation verursacht haben, die in allem außer im Namen der Dritte Weltkrieg ist. Somit ist es schwer vorstellbar, wie sie gleichzeitig die Lösung darstellen sollen. Die schweren Waffen in IS-Besitz wurden beim Überfall auf Mûsil erbeutet; es sind hauptsächlich US-amerikanische. Zu glauben, dass der IS mit ein paar Luftangriffen oder der Bewaffnung von Marionettenregimes beseitigt werden kann, ist Wunschdenken. Zumindest für diejenigen, die das Gefühl haben wollen, etwas Sinnvolles vollbracht zu haben, um mit einem besseren Gewissen schlafen zu können. Aber für die herrschenden Mächte ist es der klügste Weg, ihre Interessen in der Region zu reproduzieren. Lassen wir das mal für einen Moment sacken: Nachdem die USA einen ungerechten Krieg im Irak begannen, den zweiten Kalten Krieg in Syrien spielten, die kurdischen Kantone in Rojava, die trotz ihrer extremen Situation überaus progressive Strukturen geschaffen haben, ignorierten und die Augen vor der offensichtlichen Unterstützung ihrer Verbündeten für Dschihadisten schlossen, bombardieren sie jetzt das Gebiet erneut, um eine radikal-islamistische Gruppe zu bekämpfen, die US-amerikanische Waffen besitzt und die nie so weit ohne ausländische Unterstützung (insbesondere von US-Verbündeten wie der Türkei, Saudi-Arabiens und Katars) gekommen wäre – und von uns werden Standing Ovations erwartet! Die Amerikaner werden wieder einmal als Retter des Mittleren Ostens gelobt, auch wenn ihre Hilfe auf den Şengal-Bergen ankam, lange nachdem diejenigen, die sie als Terroristen bezeichnen, die Menschen bereits gerettet hatten! Wie kafkaesk!
Abgesehen davon sind die Luftangriffe ein unnachhaltiger Versuch einer Lösung und werden bloß den Untergang der Region auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Grobe militärische Aktion ignoriert die Tatsache, dass der IS über eine stabile Unterstützerbasis vor allem unter Sunniten verfügt, die sich von Al-Malikis Schiiten-Regime sowie Assads Alawiten-Regime entfremdet und an den Rand gedrängt fühlen. Die USA und europäische Staaten haben diese bestehenden konfessionellen Konflikte aktiv ausgenutzt. Der IS konnte wegen eben dieser sektiererischen Spannungen Mûsil und somit schwerste US-Artillerie kinderleicht einnehmen. Diese Einstellung ignoriert des Weiteren die Tatsache, dass der IS nicht aus ein paar verrückten, irrationalen Banditen besteht, sondern eine gut organisierte Gruppe ist, die Rhetorik und Technologie auf eine gefährlich professionelle Art und Weise benutzt. Sie ignoriert die Tatsache, dass so genannte »Kollateralschäden« in ungerechten Kriegen in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit tatsächlich Verluste von Leben hunderttausender realer Menschen waren, deren Gemeinden nun Rache nehmen wollen. Sie ignoriert die Tatsache, dass viele der Dschihadisten aus europäischen Ländern kommen, nachdem Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit sie in Gesellschaften, die Chancengleichheit lehren, diskriminiert haben. Natürlich rechtfertigt absolut keiner dieser Aspekte die barbarischen Massenmorde des IS, aber es wird deutlich, dass eine bloße Bombardierung des Symptoms die Krankheit nicht entfernen kann. Eine Krankheit, die von US-amerikanischer und europäischer Außenpolitik, globalem Waffenhandel und der Unterstützung für Dschihadisten durch NATO-Verbündete sowie von bestehenden konfessionellen Spannungen angeheizt worden ist. Die Völker des Mittleren Ostens sowie EU-und US-Bürger verdienen das zu wissen.

Die Lösung kann nicht die bloße Bombardierung des IS sein, sondern muss radikal und politisch sein und muss unter anderem die Anerkennung von Akteuren beinhalten wie den Kantonen in Rojava sowie der PKK, die die wichtigsten Parteien bei der Rettung der Êzîden gewesen sind und die seit fast zwei Jahren gegen Dschihadisten kämpfen. Nicht, weil sie Unterstützung »verdienen«, sondern weil sie Legitimität durch die Unterstützung von Millionen Menschen in der Bevölkerung, die sie als ihre Vertreter betrachten, genießen. Hierzu gehört auch unbedingt die Streichung der PKK aus den EU- und US-Terrorlisten. Zumindest würde das den Verwirrten der Medien und der Öffentlichkeit helfen, die sich den Kopf über die komplexe Situation kratzen, dass nun Terroristen gegen Terroristen kämpfen, nachdem sie zuerst durch den Kalten Krieg und dann seit dem 11. September darauf konditioniert worden sind, an eine Welt in Schwarz-Weiß zu glauben. Terrorlisten machen keinen Unterschied zwischen grausamen, barbarischen, unmenschlichen Banditen wie dem IS oder politischen Akteuren, die die Interessen des Status quo herausfordern. Und im Fall der PKK kriminalisiert die Terror-Zuschreibung ganze Gemeinden von gewöhnlichen Menschen. Ebenso müssen die Rojava-Kantone erhört werden. Bisher haben die Verantwortlichen der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) in Rojava unermüdlich versucht, diplomatische Kontakte mit politischen Akteuren aufzubauen, doch ihnen wurden mehrfach Visen in einige EU-Länder sowie in die USA abgelehnt.

Abgesehen davon, dass die Bombardierung der Gegend eine kurzfristige Lösung ist, wird die Weiterführung der gleichen bisherigen politischen Strategien dasselbe korrupte, sektiererische System der Abhängigkeit in der Region verewigen und nur den Prozess des langsamen Todes des Mittleren Ostens verlängern. Das Dogma des Nationalstaats und der hegemonialen Macht loszulassen hat somit auch das Potenzial, die Völker des Mittleren Ostens von der Stockholm-Syndrom-ähnlichen Zwangsjacke zu befreien, die nach Westen schauen, wann immer sich eine Krise abzeichnet. Natürlich führt der Zustand der Staatenlosigkeit zur Gefährdung ganzer Gemeinden, in einem System, das ganze Lebensrealitäten verleugnet, indem es nur wenige institutionalisierte Formen der Macht namens Staaten anerkennt. Die Kurden wissen das am besten. Doch das Problem ist nicht Staatenlosigkeit, sondern der Staat. Die Ablehnung des Staates bedeutet nicht Kapitulation, denn der Staat darf nicht mit Autonomie, Freiheit oder Unabhängigkeit verwechselt werden. Im Gegenteil, die Ereignisse in Şengal zeigen deutlich die Mängel dieses Konzeptes. Wie ein Kommandeur der PKK, Duran Kalkan, sagt: »Das Wesen des Staates ist eine Quelle organisierter Unterdrückung und Ausbeutung. Der Staat ist ein System, ein Staat zu sein bedeutet, ein Teil des Systems zu sein. Das bedeutet Abhängigkeit und Kollaboration. Kleine Staaten sind abhängig von größeren Staaten, und sie sind alle abhängig vom Staatensystem. Es ist ganz klar, dass der Staat nicht frei und unabhängig sein kann. Nur Gesellschaften mit einem freien und unabhängigen Bewusstsein können wirklich frei und unabhängig sein.« Die Institution des Staates hat unsere Denkmuster so sehr indoktriniert, dass wir fast nicht in der Lage sind, uns ein alternatives System vorzustellen.

Doch wenn wir uns die Kantone in Rojava anschauen, können wir ein hoffnungsvolles Beispiel dafür sehen, wie sich, trotz einiger Mängel durch Unerfahrenheit und des Mangels an Ressourcen aufgrund wirtschaftlicher und politischer Embargos, demokratische, säkulare und frauenbefreiende Strukturen der Selbstbestimmung entwickeln können. Die Rojava-Revolution hat nicht zum Ziel, sich von Syrien abzuspalten, da sie die Grenzen von Sykes-Picot nicht als gültig betrachtet. Doch trotz der internationalen Marginalisierung und des Kampfes gegen Assad und Islamisten unter schwierigen Bedingungen waren es Kämpfer aus Rojava, die zur Rettung der Êzîden in Südkurdistan kamen. Diese Art der Freiheit und Unabhängigkeit sollte ein viel bewundernswerteres Ziel sein, als sagen zu können: »Ich habe einen Staat, ich bin ein Teil des Systems.«

Der Islamische Staat führt des Weiteren einen gezielten Krieg gegen Frauen. Er versklavt sie für ein oder zwei Stunden dauernde so genannte »Dschihad-Ehen«, um sie so mit so genannter »religiöser Zustimmung« zu vergewaltigen. Sie haben es für »halal« (d. h. »zulässig«) erklärt, die Frauen auf der Seite ihrer Feinde zu vergewaltigen, und benutzen sexuelle Gewalt als systematische Kriegswaffe. Es wird geschätzt, dass Tausende von Frauen entführt, vergewaltigt oder auf Sklavenmärkten verkauft wurden. Delegationen, die Şengal besucht haben, berichten von Hunderten von Frauen, die Selbstmord begangen haben, um nicht in die Hände des IS zu fallen. Doch das Konzept des Demokratischen Konföderalismus und die Befreiungsideologie der kurdischen Frauenbewegung können auch eine starke und radikale Gegenkraft zur grauenvollen Mentalität des IS darstellen. YPJ-Kämpferinnen geben an, dass die Dschihadisten glauben, ihren Status als Märtyrer zu verlieren, wenn sie von einer Frau getötet werden. Die kurdische Frauenbewegung kämpft aber nicht nur auf dem Kriegsgelände gegen diese ultrapatriarchalische Mentalität, sondern hat ein weites, sozial emanzipatorisches Projekt im Sinn, das bereits in vieler Hinsicht das Patriarchat in Kurdistan zu einem bemerkenswerten Grad hinterfragt und bekämpft hat. Das Bewusstsein der Gesellschaft für die Befreiung der Frau zu verändern und dadurch Freiheit auf grundlegende Prinzipien wie die Gleichberechtigung der Geschlechter zu gründen – wie sich bereits in vielen Elementen der Bewegung manifestiert, sei es in der Rojava-Verwaltung oder in Nordkurdistan (Südosttürkei), wo kurdische Frauen mehr als 60 % aller Bürgermeisterinnen in der ganzen Türkei ausmachen (mehr als 80 %, wenn die Kobürgermeisterinnen dazugezählt werden) –, ist eine viel nachhaltigere Form des Kampfes gegen die Mentalität des IS. Immerhin nutzt dieser den in der Region vorherrschenden konservativen Begriff der »Ehre« zur Kontrolle über weibliche Sexualität und Körper aus. Den Staat als die institutionelle Erweiterung des Patriarchats zu kritisieren hat immens zur Befreiung der Frauen in Kurdistan beigetragen. Das ist die Ideologie hinter den Kämpferinnen, die den Dschihadisten des IS eine so große Angst einflößen, dass sie Frauen den Krieg angesagt haben.

Die Kämpfer der kurdischen Streitkräfte aus Rojava, die seit zwei Jahren international ausgegrenzt werden, und Guerillas der PKK, die als Terrororganisation gebrandmarkt ist, haben der internationalen Gemeinschaft eine Lektion in humanitärer Intervention erteilt. Sie haben außerdem der PDK, dem Macho von Staatlichkeit, gezeigt, was wahre Unabhängigkeit und Autonomie bedeuten. Das Volk kann sich nur selbst befreien und diese letzten paar Wochen haben gezeigt, dass es zu Abhängigkeit und Unfreiheit führt, die Marionette der globalen kapitalistischen, nationalstaatsorientierten Ordnung zu sein, während diejenigen, die außerhalb des herrschenden Systems denken, effizient und eindrucksvoll Tausende von Leben gerettet haben. Es ist höchste Zeit, dass wir überdenken, welche Art von Freiheit wir uns vorstellen. Das schulden wir den Êzîden und allen Menschen, die von den Händen des Islamischen Staates ermordet wurden.

Dilar Dirik ist Doktorandin an der Universität Cambridge mit wissenschaftlichem Schwerpunkt auf die kurdische Frauenbewegung. Auf ihrem Blog »Jin, Jiyan, Azadî« finden sich weitere Texte von ihr.

 

 


 

 

Auf ihrem Blog »Peace in, peace out« finden sich weitere Texte: http://dilar91.blogspot.co.uk/