Demonstration für KobanêAktuelle Bewertung

Gute Zeiten für die Kurden – schlechte Zeiten für die Türkei

Songül Karabulut und Nilüfer Koç

Zur Zeit der Abfassung dieses Artikels stand Kobanê (Ain al-Arab) seit über einem Monat im Widerstand, in der Verteidigung gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS, vormals ISIL oder ISIS), mit dem Ergebnis, dass sich in der zuvor aussichtslos scheinenden Lage eine Wendung abzuzeichnen begann. Dabei hatten viele frühzeitig den Fall Kobanês prognostiziert, so wie der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan oder auch westliche Staatsvertreter.

 

Die kurdischen Selbstverwaltungen im nordsyrischen Rojava (Westkurdistan) sind von Beginn an den radikalislamischen Dschihadisten wie Al-Nusra und ISIS ein Dorn im Auge. Man könnte meinen, deren Hauptziel sei es, die kurdischen Errungenschaften zu vernichten. Kobanê war seit seiner Entstehung als Selbstverwaltungskanton drei Angriffswellen ausgesetzt. Die letzte seit dem 15. September ist die größte und umfangreichste, die unmittelbar auf den Angriff in Irak/Südkurdistan auf die êzîdisch-kurdische Bevölkerung Şengals (Sindschars) und auf Maxmur folgte. Sei es in Irak oder in Syrien, es sind Kurden, die vom IS mit Genozidabsicht angegriffen werden. Warum ist das so?

Mit dem Aufstand in Syrien gegen das Assad-Regime als letzte Aufstandswelle des sogenannten »arabischen Frühlings« sind die annähernd drei Millionen zählenden Kurden in Syrien einen eigenen Weg gegangen, unabhängig von der syrischen »Opposition«, die nicht bereit war, kurdische Forderungen zu akzeptieren, und gegen das Regime, das die kurdische Bevölkerung seit längerem bekämpfte. Die Kurden schufen – dem Paradigma des kurdischen Volksvertreters Abdullah Öcalan des Demokratischen Konföderalismus gemäß – gemeinsam mit den unterschiedlichen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften, die ebenfalls die kurdischen Siedlungsgebiete zur Heimat haben, ihre eigenständigen Selbstverwaltungen. Im Januar 2014 schließlich wurden diese Selbstverwaltungen in drei Kantonen proklamiert. Die Kantone in Rojava sind ein Modell für ein demokratisches multiethnisches und multireligiöses Zusammenleben. Hier sind alle Identitäten gleichberechtigt und können sich in allen Gremien einbringen.

Wer und was ist der IS?

Die Terrorgruppe IS will gewaltsam einen sunnitischen Gottesstaat aufbauen, der Syrien, den Irak, aber auch den Libanon, Israel und Jordanien umfasst. Dieses Kalifat soll nach deren Logik von »Ungläubigen« gereinigt werden. In dieser Region lebende Menschen, die einem anderen Glauben angehören oder eine andere politische Auffassung haben, werden getötet oder vertrieben. Es wäre nicht falsch, den IS als faschistische Besatzungsmacht zu charakterisieren. Viele seiner Mitglieder werden weltweit rekrutiert. Erstaunlich ist, wie schnell diese Gruppe wachsen und diese Stärke erreichen konnte. Was damit zu erklären ist, dass sich ihre Existenz mit den Interessen regionaler und internationaler Staaten deckt, so dass es ihr nicht an Unterstützung fehlt. Nach der Logik »der Feind meines Feindes ist mein Freund« wurde für den IS Geburtshilfe geleistet.

Der IS trägt Kämpfe für andere politische Akteure aus. Er profitiert zum einen vom antischiitischen Lager, das durch die Stärkung der sunnitischen Gruppe den Einfluss der Schiiten in der Region (Irak und Syrien) zu begrenzen sucht (zu erwähnen wären hier die Türkei, Saudi-Arabien, Katar etc.).
Er ist gleichzeitig Instrument ehemaliger Mitglieder des Baath-Regimes, die mit dem Sturz Saddam Husseins an Einfluss verloren haben und diesen nun auf diese Weise zurückzuerobern versuchen.

Des Weiteren stellt er eine Keule dar in den Händen von antikurdischen, allen voran Anti-PKK-Kräften. Hierbei führen die Türkei, der Iran, der Westen diesen Block an. Dem sind die basisdemokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava ein Ärgernis. Während die regionalen wie globalen Kräfte über den IS Chaos und Krisen stiften und darüber die Region neugestalten wollen, ist Rojava eine konkrete Antwort auf die Krisen- und Chaosstrategie. Jeder der involvierten Staaten braucht Zeit, um in der Realität der multipolaren Politik seine Interessen auszuweiten. So haben zum Beispiel die Türkei und der Iran neben ihrer Machtausdehnung nach Syrien auch eine antikurdische Haltung als Grund. Der Iran ist an einer alawitischen Kraft interessiert, um mit dieser die Macht in Syrien zu teilen. Die Türkei betrachtet Syrien als Eigentum aus der Zeit des Osmanischen Reiches, in der Syrien türkischer Hoheit unterstand.

Beide Staaten wollen auf dem Boden des bestehenden politischen Vakuums, der Krise und des Chaos mit ihrer expansionistischen Politik eigene Interessen durchsetzen. Ferner unterstützen sie den IS vor allem gegen die Kurden, da beide ein kurdisches Problem haben. Hier ist die Türkei aktiver und der Iran passiver Unterstützer des IS.

Israel, USA und die EU-Staaten konzentrieren sich für eine längerfristige Strategie auf einen »unabhängigen kurdischen Staat« in Irakisch-(Süd-)Kurdistan. Darin liegt auch der Grund für dessen derartige militärische Aufrüstung. Das israelische Interesse an einem solchen kurdischen Staat beruht auf dem Bestreben, die eigene Isolation zu mildern. Zum anderen grenzt Irakisch-Kurdistan an den Iran, den Israel als Erzfeind und existenzielle Gefahr betrachtet. Die Welt soll zwischen Terror=IS und kurdischem Staat=KRG entscheiden. Das heißt, mit der Brutalität, dem Terror des IS soll ein kurdischer Staat forciert werden.
Auch USA und EU plädieren längerfristig für einen kurdischen Staat in Irak. Strategische Differenzen zwischen ihnen sind sekundär, vielmehr differieren sie in Fragen der Methode oder der zeitlichen Bestimmung. Ein unabhängiger kurdischer Staat soll dann als eine »stabile Festung« dienen, über diesen Brückenkopf soll die neoliberale Expansion bis nach Asien, Afrika vollzogen werden. Vor allem soll der Iran damit stärker eingegrenzt werden.

Irakisch-Kurdistan

Im Bewusstsein des globalen Konzepts für Irakisch-Kurdistan handelt vor allem der Präsident der Autonomen Region Kurdistan (auch KRG genannt: Kurdistan Regional Government), Mesûd Barzanî. Seine Auftritte, auch die hochrangigen Besuche auf Staatsebene, sollen in der internationalen Politik das Bild von einem nationalen kurdischen Führer vermitteln. Während er sich international derart profiliert, sehen seine Vorstellung und seine Politik im Land selbst ganz anders aus. Dass er laut KRG-Verfassung Oberkommandierender der Peşmerga-Armee ist und seine politische Fehleinschätzung in Şengal fast zu einem Massaker an zehntausenden êzîdischen Kurden führte, ist ihm im Land nicht verziehen worden. Ebenso die Tatsache, dass er nicht fähig war, Maxmur zu verteidigen und somit Hewlêr (Arbil; die KRG-Hauptstadt) in Gefahr brachte.

Nicht nur die êzîdischen Kurden, auch die christlichen Assyrer, Armenier, schiitischen Turkmenen und Araber in Irakisch-Kurdistan betrachten ihn mit Misstrauen und haben nach den blutigen Erfahrungen in Şengal und Maxmur angefangen, eigene Verteidigungseinheiten zu fordern. Mittlerweile haben neben den christlichen Assyrern auch Armenier ihre eigenen autonomen Verteidigungsstrukturen aufgebaut.

Die IS-Angriffe vor allem in den von Barzanîs Demokratischer Partei Kurdistans PDK kontrollierten Gebieten wie Şengal, Maxmur, Rabia haben gezeigt, dass diese nicht in der Lage ist, das Land zu verteidigen, obwohl offiziell von einer 200 000 Mann starken Peşmerga-Armee gesprochen wird. Sowohl die Peşmerga als auch die anderen Sicherheitskräfte sind Exekutivkräfte, daher müssen die politischen Entscheidungsträger beschuldigt werden. Hätte nicht die Arbeiterpartei Kurdistan PKK mit ihren Guerillas interveniert, so wären Şengal, Maxmur, Rabia und somit Hewlêr gefallen. Obwohl der strategische Bündnispartner Türkei von Herrn Barzanî persönlich zu Hilfe gerufen wurde, blieb der Ruf erfolglos, da die Türkei »die drei Affen« spielte: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Die Brutalität des IS hat eine erschreckende Wahrheit des KRG-de-facto-Staates mit seiner 24-jährigen Erfahrung aufgedeckt, die zentrales Diskussionsthema in Kurdistan ist. Diese Phase wird jetzt nach der IS-Besetzung Mûsils (Mosuls) intensiv hinterfragt. Bekanntlich hatte Barzanî jüngst national und international seine Vorbereitungen für die Proklamation eines unabhängigen kurdischen Staates angekündigt und dafür im KRG-Parlament ein Plebiszit gefordert. Sofort meldeten sich führende israelische Politiker und bekundeten ihre Unterstützung, während die USA dem Zeitplan nicht zustimmten. Letztere waren vielmehr bemüht, den Dialog zwischen Bagdad und Hewlêr zu stabilisieren, um eine Balance mit dem Iran herzustellen, da ansonsten eine weitere schwer kontrollierbare Krise aufgetreten wäre. Parallel zu Mûsil war der IS über Celawla, Xaneqîn, Tuz Xurmato an die iranische Grenze vorgedrungen und kämpfte in diesem Gebiet gegen die Peşmerga der Patriotischen Union Kurdistans (YNK). Diese Nähe alarmierte nun den Iran und veranlasste ihn, Sondereinheiten nach Irakisch-Kurdistan zu schicken.

Die IS-Angriffe auf Şengal, Maxmur haben aber gezeigt, dass es der KRG für eine Staatsproklamation an vielem fehlt. Abgesehen davon ist für einen kurdischen Staat die Zustimmung anderer kurdischer Kräfte sowohl aus Irakisch-Kurdistan als auch aus dem Norden, Osten und Westen erforderlich. Keines der Teilgebiete Kurdistans kann heute einen wesentlichen Beschluss ohne die Unterstützung aus den anderen Teilen durchführen. So wie im gesamten Mittleren Osten bewahrheitet sich auch in Irakisch-Kurdistan, dass die Ära von »ein Mann – eine Partei« vorbei ist. Weder die Türkei noch der Iran würden einem kurdischen Staat zustimmen. Deshalb braucht die KRG die Unterstützung der Kurden aus diesen Ländern, da dort starke kurdische Parteien existieren, die im Falle einer Bedrohung Irakisch-Kurdistan schützen könnten.

Die IS-Brutalität hat aber auch dazu geführt, dass heute eine Strategie der nationalen Einheit für kurdische Erfolge unausweichlich ist. Militärische Ausrüstung aus dem Ausland kann kurzfristig das Feuer eindämmen; dauerhaften Frieden aber können die Kurden nur selbst schaffen, indem sie gemeinsam agieren. Ein Baustein dafür ist mit der gemeinsamen Verteidigung (von PKK-, PDK-, YNK-Kräften) an kritischen Orten wie Şengal, Maxmur, Rabia, Celawla, Xaneqîn und Kerkûk gesetzt worden. Was an der Front möglich ist, muss auf die politische Bühne gebracht und zum erneuten Versuch eines kurdischen Nationalkongresses werden. Öcalan hatte dieses Bild vorausgesehen und letztes Jahr sowohl PDK als auch YNK dazu aufgefordert, über gemeinsame Beschlüsse eines kurdischen Nationalkongresses Präventivmaßnahmen im politischen Chaos des Mittleren Ostens zu treffen. Die PKK hatte aus diesem Grund die Initiative ergriffen und mit der PDK wie auch der YNK ein gemeinsames Handeln thematisiert. Von Juli bis November 2013 arbeiteten Vertreter von 21 Parteien und Organisationen an den Vorbereitungen des ersten kurdischen Nationalkongresses. Allerdings erfolglos, da vor allem der Machtkampf der dortigen PDK-Schwesterparteien das Projekt einer einheitlichen Politik für die Zukunft Rojavas scheitern ließ. Nun aber besteht erneut eine Chance, das Werk vom letzten Jahr ein zweites Mal in Angriff zu nehmen. Nun haben die Kurden einen gemeinsamen Feind: den IS. Abgesehen davon genießen sie heute aufgrund ihrer Erfolge im Widerstand weltweit viel mehr Interesse und Sympathie.

Der »dritte Weg«

In der gesamten Konzeption zur Neugestaltung des Mittleren Ostens gilt die PKK sowohl bei regionalen als auch bei globalen Mächten als Störfaktor. Allerdings kann sie mit ihrem Einfluss und den Erfolgen in Nord-, Ost-, Süd- und Westkurdistan sowie der kurdischen Diaspora nicht übersehen werden. Im Gegensatz zur Ausdehnung des Chaos und der Vertiefung der Krisen im Mittleren Osten produziert Öcalan das theoretisch-historische Wissen und die Begründung für die Demokratisierung als Grundlage für den Frieden und eine neue Gesellschaftsordnung, während die PKK dem durch die Mobilisierung und Motivierung der Menschen und zivilen Organisationsstrukturen in Kurdistan zur Umsetzung verhilft. Die absolute Mehrheit der Kurden sieht in der Strategie des »dritten Weges« eine vernünftige Alternative. Der dritte Weg ist eine Strategie, die alle von der Macht ausgeschlossenen Kräfte als strategische Bündnispartner betrachtet. Das heißt: Frauen, Religionsgemeinschaften, ethnische Gruppen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit Opfer herrschender Machtpolitik wurden. In Rojava, aber auch in Nordkurdistan ist es all diesen gelungen, eigene Verwaltungsstrukturen aufzubauen und trotz der Vielfalt und Verschiedenheit gemeinsam die Zukunft zu gestalten.

Das Revolutionäre am dritten Weg Öcalans und der PKK ist, dass sie nicht eine Konfrontation oder Eskalation mit den globalen wie regionalen Kräften suchen, sondern diese dazu bewegen, die motivierten und eigenständig organisierten »Dritten« (Frauen, Volksgruppen, Glaubensgemeinschaften, kurz: alle vom herrschenden System Diskriminierten) wahrzunehmen und ihnen mit Respekt zu begegnen. Der dritte Weg verweist hierbei auf das in internationalen Abkommen festgelegte Recht auf Selbstbestimmung, Selbstverteidigung und Organisierung. Der dritte Weg sucht auch den Dialog mit den Herrschenden, um einen gemeinsamen Nenner zu finden.

In Rojava wurde die Strategie des dritten Weges erfolgreich gegen den permanenten IS-Terror durchgesetzt. Mit dem Widerstand von Kobanê erreicht der Erfolg des Kampfes der Dritten einen historischen Wendepunkt. Der Grund, weshalb Millionen Kurden auf die Barrikaden gingen, war nicht nur das nationale Selbstbewusstsein. Alle, die auf die Straße gingen, standen für die Errungenschaften, die Kobanê repräsentiert. Kobanê weckt alte Bilder der Hoffnung, des Menschheitskampfes. Kobanê bedeutet auch Ermutigung für alle Unterdrückten, sich ihrer eigenen Stärke bewusst zu werden und nicht als Opfer digitaler technischer Überlegenheit zu sehen. Nicht nur im Ostkurdistan Irans, wo allein eine Äußerung ausreicht, um am Strang des diktatorischen Mullah-Regimes zu landen, gingen Millionen Kurden auf die Straße, auch in Afghanistan meldeten sie sich. Millionen in der Diaspora wurden zu kurdischen Diplomaten und suchten nach Solidarität für Kobanê.

Kobanê hat noch eine andere Bedeutung für die Kurden. Im Herbst 1979, als sich Abdullah Öcalan und führende ZK-Mitglieder der PKK kurze Zeit vor dem Militärputsch in der Türkei aus Nordkurdistan zurückzogen, kam Öcalan nach Kobanê und legte in dieser kleinen Stadt das erste Fundament für die Organisierung in Rojava. Von hier aus machte sich die PKK einen Namen unter Rojavas Kurden. Die Revolutions- und Widerstandserfahrungen der letzten 35 Jahre, von 1979 bis 2014, in Kobanê erleben ihren Höhepunkt seit dem 15. September.

Kobanê ist neuer Hoffnungsschimmer

Der Widerstandsgeist von Kobanê ist ein Resultat der Überzeugung der Dritten. Mit dem Willen der Freiheit und der Kalaschnikow wird mehr als einen Monat gegen eine Kraft mit überlegener Militärtechnologie gekämpft. Die Dritten haben den Geschmack der Freiheit im Kantonalsystem erfahren und mit dieser Überzeugung gekämpft. Die technisch Überlegenen wurden unterstützt und mit einem unglaublichen Hass auf Kobanê gestärkt. In Kobanê wütete der Hass auf die Freiheit.

Kobanê heißt Hoffnungsschimmer für ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben von Individuen (Frauen und Männern) und Völkern.
Manche haben den Angriff und den Widerstand mit Stalingrad verglichen, andere mit Srebrenica, andere wiederum mit El Salvador; zuletzt nannte der französische Staatspräsident François Hollande Kobanê »Märtyrer-Stadt, eine symbolische Stadt«. Alle Vergleiche haben ihre Berechtigung und bringen eine Seite bzw. eine historische Wahrheit Kobanês zur Sprache.

Kobanê stellt heute den Widerstand gegen den IS-Faschismus dar, also ist sein Kampf antifaschistisch. Kobanê ist die Selbstverteidigung gegen die IS-Besatzung, also antikolonialistisch. Kobanê ist der Widerstand von Frauen gegen das pure Patriarchat und den Feminizid. Kobanê ist der Widerstand für Glaubensfreiheit und Minderheitenrechte, weil dort alle Glaubensgemeinschaften ihre kulturelle Existenz gegen den mit dem Islam maskierten »grünen Faschismus« verteidigen. Diese Liste kann ohne Weiteres verlängert werden. Aber eines ist klar: Kobanê ist eine kleine Stadt mit einer großen Mission für die gesamte Welt der Unterdrückten.

Mit Kobanê wird sich entscheiden, ob sich der grüne IS-Faschismus in der Region ausbreitet oder ob es als ein multiethnisches und multireligiöses basisdemokratisches Modell mit Geschlechterfreiheit eine neue Ära in der Region eröffnen wird, das gleichzeitig die bestehenden Demokratien und Freiheiten auf der Welt ein Stück weiter vorantreibt und bereichert.

In einer Zeit, in der der pure Pragmatismus den Weltlauf bestimmt und sich das Ohnmachtsgefühl der Menschen und Völker unerträglich ausbreitet, ist Kobanê ein Hoffnungsschimmer für diejenigen, die nicht mehr fremdbestimmt leben wollen. Die Botschaft heißt: »Freiheit ist möglich, wenn Du bereit bist, den Preis dafür zu zahlen.«Geh zur Rojava-Revolution – Der Weg zum Kanton Kobanê | DIHA

Wille, Widerstand und Solidarität

Kobanê ist nur auf die internationale Tagesordnung geraten, weil es nicht wie erwartet binnen einer Woche kapituliert hat und weil die Kurden weltweit Kobanê nicht alleingelassen haben.

Der Widerstand hat die Kurden vereint, und auch die Solidarität demokratischer Kräfte weltweit konnte gebündelt werden. Die sonst meist von Kurden allein durchgeführten Demonstrationen waren diesmal bunter und vielfältiger.

Diejenigen, die Kobanê eigentlich längst aufgegeben und sich nur auf die Meldung »Kobanê ist auch gefallen« fixiert hatten, gerieten immer mehr in Handlungsnot. Das ist der Grund, warum die internationale Koalition sowie die westlichen Staaten sehr spät und unwillig reagiert haben.
Salih Muslim, der Kovorsitzende der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) aus Rojava, sagte am 11. Oktober auf der bundesweiten Demonstration in Düsseldorf zur Unterstützung Rojavas vor den annähernd Hunderttausend: »Es wird nicht unsere Schande sein, wenn Kobanê fällt, denn wir kämpfen bis zuletzt, sondern es wird die Schande der Staatengemeinschaft sein.«

Welche Rolle spielt die Türkei in dem Ganzen?

Erstaunlich ist auch, wie parallel zum Widerstand in Kobanê die Türkei zunehmend in die Kritik geraten ist. Zum einen wegen ihrer Verantwortung als Unterstützerin des IS, aber auch aufgrund ihrer Haltung während des Widerstands.

Die Türkei hat nach dem Ausbruch des Aufstands in Syrien trotz bis dato hervorragender Beziehungen zur Assad-Familie eine 180-Grad-Wendung vollzogen, sich seitdem für eine Militärintervention in Syrien ausgesprochen und ihre Bündnispartner zu diesem Zweck unter Druck zu setzen versucht, so wie sie es auch gegenwärtig handhabt.

Auch wenn sie dies mit dem Assad-Regime zu erklären versucht, ist aber jedem, der die Türkei einigermaßen kennt, bewusst, dass die Motivation für eine Militärintervention in ihrem Streben begründet liegt, jeden Versuch der Kurden zu verhindern, diese Aufstandssituation zu ihren Gunsten zu nutzen.
Die radikalislamischen Gruppierungen werden von der Türkei gegen die Völker in der Region eingesetzt. Öcalan nannte den IS gegenüber der ihn besuchenden Delegation der Demokratischen Partei der Völker (HDP) eine andere Version von JITEM [Jandarma-Nachrichtendienst], einer Art Kontraguerilla, die jahrelang gegen das kurdische Volk in der Türkei gemordet hatte. Angesichts der Ziele des IS liegt die Erkenntnis nahe, dass er wie JITEM agiert und dabei auf die großzügige Unterstützung der Türkei zählen kann.

Die IS-Kämpfer sind über die Grenze der Türkei nach Syrien und Irak gegangen. Über die Türkei werden Erdölgeschäfte in Millionenhöhe (für die IS-Kasse) abgewickelt. Die Türkei versorgt verletzte ISler. Die Türkei dient als Rückzugsgebiet für den IS.

Die Türkei hat ihre Grenze nur einseitig für diejenigen geöffnet, die Kobanê aus Sicherheitsgründen verlassen wollten. Für Kurden ist die Grenze in die andere Richtung (also von der Türkei nach Kobanê) geschlossen, für IS-Kämpfer wiederum offen. Während der Liveübertragung eines TV-Senders an der türkisch-syrischen Grenze waren zufällig IS-Milizionäre zu sehen, die von der türkischen Seite nach Syrien wechselten, ohne von den Grenzposten daran gehindert zu werden.

Die Türkei ging brutal gegen Demonstranten vor, die ihre Solidarität mit Kobanê zeigten und gegen die gefährliche Politik der Türkei protestierten. Es kam zu mehr als 1213 Festnahmen, über 183 Verhaftungen, über 40 Toten und mehreren Hundert Verletzten.

Am 13. Oktober wurde dann gemeldet, dass türkische Kampfflugzeuge Guerillastellungen der Volksverteidigungskräfte HPG bei Oramar (Dağlıca) in der Region Colemêrg (Hakkâri) angegriffen hatten.

Türkei entzieht dem »Friedensprozess« die Grundlage

Die Türkei steht offiziell seit Ende 2012 in einem Dialogprozess mit dem kurdischen Volksvertreter Abdullah Öcalan. Seit Newroz 2013 besteht de facto ein beidseitiger Waffenstillstand. Und während Kobanê mithilfe der Türkei einem asymmetrischen Krieg ausgesetzt ist, erklären Regierungsvertreter, dass die Türkei entschlossen sei, den Friedensprozess zum Erfolg zu führen.

Abgesehen davon, dass die Luftangriffe auf die Guerilla-Stellungen eine Verletzung des Waffenstillstands darstellen, weigert sich die Türkei, das von drei Seiten – West, Ost und Süd – vom IS umzingelte und angegriffene Kobanê von Norden aus versorgen zu lassen. Die Einrichtung eines Unterstützungskorridors für die Eingeschlossenen in Kobanê blieb trotz Zusage aus. Die internationale Gemeinschaft wiederum lädt ihre Verantwortung auf den NATO-Partner Türkei, der Westen gibt den zunehmenden Druck auf sich an sie weiter. Die Kritik an der Türkei wächst mit jedem Tag des anhaltenden Widerstands.

Die Türkei würde gern einen NATO-Bündnisfall nach Art. 5 schaffen, um mithilfe der Verbündeten in Rojava einrücken zu können. Sie stellt Bedingungen, sich nur dann an der internationalen Koalition zu beteiligen, wenn unter türkischer Führung eine Flugverbotszone gekoppelt mit einer Pufferzone an der türkisch-syrischen Grenze eingerichtet wird und wenn neben dem IS das Assad-Regime und die PKK gleichermaßen bekämpft werden. Gleichzeitig bietet sie den Kurden Hilfe nur unter der Voraussetzung an, dass sie sich von ihrer politischen Haltung distanzieren, ihre Selbstverwaltung aufgeben, sich in die syrische Opposition integrieren (anzumerken ist, dass die Türkei die syrische Opposition unter Druck gesetzt hat, nicht auf kurdische Forderungen einzugehen) – also politisch kapitulieren.

Eigentlich wissen es alle: Die Rolle der Türkei ist eine Gefahr für die Region, sie gefährdet Frieden und Stabilität. Zum einen versucht sie die Kräfte im Irak gegeneinander aufzuhetzen. Dann leistet sie Geburtshilfe bei den radikalislamischen Terrorgruppen wie Al-Nusra und IS und übernimmt die Patenschaft für sie. Sie instrumentalisiert den IS als Kontraguerilla gegen die Kurden.

Während des Widerstands in Kobanê hat die Türkei immer wieder erklärt, es gäbe keine Zivilisten mehr in der Stadt und ein Handeln sei daher unnötig. Denn ihrer Logik zufolge stehen sich dort zwei Terrorgruppen gegenüber. Sollen sie sich doch gegenseitig die Köpfe einschlagen. Das ist eine äußerst gefährliche Logik. Denn die Menschen, die sich in der Türkei aufhalten, sind Verwandte der in Kobanê Gebliebenen, sie werden nicht tatenlos zusehen, wir ihre Angehörigen massakriert werden.

Gleichzeitig benutzt die Türkei die hohe Flüchtlingszahl als Trumpfkarte gegen den Westen.

Sie hat klipp und klar den IS für längst nicht so gefährlich erklärt wie die PKK, die in Şengal einen Genozid verhindert hat, die ein Garant für viele Volksgruppen in der Region und die effektive Kraft gegen den IS ist. Die Ausdauer der Kurden dürfte der Türkei nicht fremd sein. Seit Entstehung der türkischen Republik versucht sie die Kurden von ihrem Widerstand gegen Ungerechtigkeit abzubringen, ohne Erfolg. Die Türkei ist es gewohnt, bei ihrer antikurdischen Politik auf westliche Unterstützung zählen zu können. Daher ist sie auch jetzt bestrebt, den Kampf gegen den IS an die Bekämpfung der Kurden zu knüpfen. Aber diesmal scheint es nicht so einfach zu funktionieren, weil sie niemanden überzeugen kann, dass der IS das Gleiche sei wie die PKK.

Diese kurdenfeindliche Politik der türkischen Regierungspartei AKP, die sich in ihrer Annäherung an Rojava sehr stark entlarvt, gefährdet auch den eigentlich noch anhaltenden Friedensprozess in der Türkei mit der PKK. Während die AKP mit dem kurdischen Volksvertreter Abdullah Öcalan seit Ende 2012 Gespräche führt, ohne ernsthafte Schritte zu unternehmen, wird mit Rojava immer deutlicher, dass die Türkei noch weit davon entfernt ist, ernsthaft eine Aussöhnung mit den Kurden anzustreben. Ihre Rojava-Politik zeigt immer mehr, dass sie noch immer die kurdischen Errungenschaften als Hauptgefahr sieht und mit allen Mitteln, und wenn nötig, mithilfe des IS, zu vernichten trachtet. Mit dieser Politik entzieht die AKP dem Friedensprozess jegliche Grundlage. Die PKK kann nicht mit einer AKP Frieden schmieden, während dieselbe AKP nebenan den Tod von Verwandten verantwortet. Daher ist das Schicksal Kobanês mit dem des Friedensprozesses in der Türkei verbunden. Fällt Kobanê, fällt der Friedensprozess. Wir sind an einem Wendepunkt sowohl für die Türkei als auch für die Kurden angelangt. Dieser Wendepunkt ist Kobanê.

Es ist ein Schlüssel für die Lösung der kurdischen Frage, die Lösung der kurdischen Frage wiederum ist der Schlüssel für Demokratie und Stabilität in der Region, folglich ist Kobanê mehr als nur Kobanê.

Der Wind hat sich gedreht, schlechte Zeiten warten auf die Türkei

Wer tatsächlich an der Demokratisierung der Region sowie an Stabilität und Frieden im Mittleren Osten interessiert ist, stößt sehr schnell auf die Negativrolle der Türkei. Diese spielt gefährlich, nicht nur für sich selbst, sondern für alle Menschen in der Region. So wie sie lange Jahre illegale dunkle Kräfte wie JITEM und Hisbollah gegen die kurdische Befreiungsbewegung aufgebaut und unterstützt hat, versucht sie sie jetzt auch außenpolitisch einzusetzen. Etliche politische Kräfte sind zu Recht nicht mehr bereit, die Last der Türkei auf sich zu laden.

Spätestens seit Şengal, wo die êzîdisch-kurdische Bevölkerung, aber auch die schiitischen Turkmenen und Christen durch die Kämpfer und Kämpferinnen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sowie der Volksverteidigungskräfte (HPG) und Einheiten der Freien Frauen Ischtar (YJA Star) vor einem Genozid gerettet wurden, ist das Aufrechterhalten der Behauptung, die PKK sei eine terroristische Organisation, nicht mehr so leicht. Immer mehr Stimmen aus Politik und Wissenschaft fordern zu Recht die Streichung der PKK aus allen Terrorlisten. Aber hier ist erneut die Türkei gefragt. Das bestätigte der EU-Koordinator für Terrorismusbekämpfung, Gilles de Kerchove, auf einer Sitzung in diesem Monat: »Die Türkei ist gegen die Streichung der PKK aus der Liste der terroristischen Organisationen.« Die Türkei spielt nicht nur in ihrer Region eine negative Rolle, sondern setzt ihre antikurdische Politik auch multilateral fort.

Die jüngsten Entwicklungen in Irak, Syrien und der Türkei haben die Triebkraft des kurdischen Volkes in der Region für Demokratie bewiesen. Es ist ein Schutzschild für alle unterdrückten und angegriffenen Identitäten. Die Geschichte zeigt, dass lange anhaltende statische Verhältnisse in nur sehr kurzer Zeit total umgewälzt werden können. Die Region befindet sich gegenwärtig in einer solchen Situation. Wer den Zeitgeist nicht erkennt, läuft Gefahr überrollt zu werden. Schlechte Zeiten für die Türkei, gute Zeiten für die Kurden.

Die EU und vor allem Deutschland müssen jetzt wissen, dass ihr Argument für das PKK-Verbot »Abhängigkeit vom türkischen Beharren« nicht mehr überzeugt. Die Türkei ist in ihrer Kurden- wie auch IS-Politik äußerst konkret, pro IS und kontra Kurden. Hier müssen Deutschland und die EU ihre eigentliche Absicht offenbaren. Denn eine nachvollziehbare Argumentation für das PKK-Verbot wird vor dem Hintergrund der breiten öffentlichen Sympathie für die Kurden und der PKK gegenüber immer schwieriger werden.

Auch ist es vor allem für Deutschland ratsam, eine Wende in der kurdischen Frage zu vollziehen. Die Kurden im Mittleren Osten sind nicht mehr zu übersehen und können nicht mehr als Anhängsel der Türkei, des Iran, Irak oder Syriens gesehen werden. Die Kurden und ihre politische Vertretung müssen als eigenständige Kraft akzeptiert werden. Ausgehend von der Tatsache, dass die PKK in diesem Rahmen über mehr politischen Einfluss in den vier Teilen Kurdistans und der Diaspora verfügt, muss die Anti-PKK-Politik neu bewertet werden.

Ferner müssen, soll ein zukünftiges demokratisches Syrien gestaltet werden, die Vertreter der Kantone Rojavas anerkannt werden, da die Demokratische Autonomie in Rojava als ein Beispiel für ganz Syrien aufgegriffen werden kann.